Schlagwörter

,

Es gibt zwei Arten von Livestreams: Die einen kosten was, die andern kosten nichts. Das gilt auch für die Berliner Streams.

Ohne Login und ohne Kreditkarte schaut man bei den großen Berliner Orchestern. Nur die Philharmoniker scheren aus. Die versilbern die Nachfrage nach Konzert-Erlebnissen nämlich in der hauseigenen (Corona-)Concert-Hall. Während kleinere Veranstalter eher auf Bezahl-Streams setzen und das fokussiert interessierte Nischenpublikum anpeilen.

Montag, 23. 11., 20:00, Friedrichwerdersche Kirche. Robert Ticciati ist zwei Tage nach dem Wagner-Stream mit dem DSO wieder auf Sendung. Es wird nicht im strengen Sinn gestreamt, da ohne Bild, aber das DSO ist live und real hörbar per Radio – wenn auch schrecklich verhallt. In Gabrielis zehnstimmigem Canzon in echo duodecimi toni à 10 produziert das Blech in der frisch renovierten Kirche gewaltige Hallfahnen. Aber für Glücksgefühle reichts dank der 1/16-Jauchzer der Trompeten dann doch. Eiserne Regel beim Streamen: abschalten wenn’s nicht passt. So gemacht bei Strawinskys Apollon, den ich auf Teufel komm raus nicht mag. Frei nach dem Rosenkavalier: Es is ja all’s net drumi wert. Aber es kommt ja noch Mozarts Sinfonie Nr. 41, dargeboten mit Darmsaiten und Naturhörnern und ganz ohne hechelnde Kurzatmigkeit. Dafür beweisen die Tuttis Grandeur, und die Ton-Spannung kommt von innen. Der langsame Satz tönt fast nüchtern vor Genauigkeit der Phrasierung und vor Ausgewogenheit der Proportionen. Da ergibt jede Pausendehnung Sinn. Schließlich die erregten Pulsschläge, die unermüdliche Kraft, die ungenierte Gelehrtheit, die unübersehbaren symphonischen Entwicklungen dieses immer aufs Neue verblüffenden Finales. Der DSO-Mozart mit Ticciati ist was Außergewöhnliches. Der RBB überträgt.

Wann kehren die Publikumskonzerte zurück? Nicht so bald.

Christoph Igelbrink, Solène Kermarrec, David Riniker / Foto: Livestream Digital Concert Hall

Sonntag, 22. 11., 19:30, Leipzig. Über Vimeo streamt das Ensemble Musikfabrik die Uraufführung von Enno Poppes Prozession. Ich höre das Ding nachts unter der Woche. Man zahlt 5 Euro, kann den Stream 1 Monat sehen. Das ist auch gut so. Denn mehrmaliges Hören ist ratsam. Durchaus lange 52 Minuten dauert das Stück. Man fühlt sich, als triebe man als einsames Blutkörperchen durch die unendlichen Weiten des menschlichen Organismus. Beim zweiten Hören klingt Prozession, als hätte jemand Pattex in die Partitur injiziert. Aber jetzt tauchen Formen wie Berge aus dem Nebel auf. In sich gegliederte Abschnitte, abstrakte Duos, hartnäckige Höhepunkte. Der dritte Durchgang steht nächste Woche an. Enno Poppe dirigiert im Streifenanzug über lässigem Hemd im Bothe-Muster. Eine Freude ist wieder die bis zur Dürre gehende Klarheit seines Dirigats. Die Aufführung fand statt im Rahmen des Ensemblefestivals Aktuelle Musik Leipzig.

Leidliches Thema übrigens: Über WLAN macht das Berliner Streamen wenig Spaß. Früher oder (selten) später kommt der erste Datenstau. Fazit: Das MacBook ist unbrauchbar. Ich sehe per LAN am Windows-Rechner.

Samstag, 28. 11., 19:00, Philharmonie. Wo die Berliner Philharmoniker mit Ibert und Busoni auftreten. Wie sich die Bilder gleichen. Auch hier verlieren sich die leeren Stuhlreihen gespenstisch im Dunkel. Barenboim dirigiert. Emmanuel Pahud spielt das Flötenkonzert von Ibert und von Busoni das Divertimento op. 52 (1920). Letzteres wurde vor 99 Jahren mit dem Orchester uraufgeführt. Am Pult stand Busoni. Zum Sterben schön die Cello-Kantilene mitten im langsamen Teil. In Opus 52 bringt Busoni Neo-Stil mit neuer Einfachheit zusammen. Die ein oder andere Skala hätte so auch der alte Fritz komponieren können. Ganz anders Iberts flottes, dreisätziges Flötenkonzert (1932). Das ist auf unwiderstehliche Weise komplex und verspielt. Pahuds Töne taugen allesamt für die Goldwaage, Tonemission und Vibrato sind ultrasensibel. Das ist schon klasse, dazu glitzert Iberts Klangbild, die spritzigen Themen werden von klarster Luft umflossen. Ein herrliches Stück, das helles Flöten-Entzücken bereitet. Bei der Symphonie Fantastique bin ich wieder ganz bei Octavian: Es is ja all’s net drumi wert. Aber sonst lieb ich von Berlioz so ziemlich alles von Waverley bis Troyens.

Geplant war eigentlich das Boulanger Trio mit Matthias Pintscher im Radialsystem. Dann waren mir 10 Euro in der sogenannten Idagio Global Concert Hall doch zu viel.

Kaum eine Aufführung ist frei von jenem leicht säuerlichen Corona-Charme, der noch jedes Video-Konzert kennzeichnet.

Samstag, 28. 11., 21:00, Konzerthaus. Joana Mallwitz dirigiert das Konzerthausorchester. Schubert, große C-Dur-Sinfonie. Es ist ein erstaunliches Dirigat. Die Frische der Details, die Deutlichkeit der Artikulation, die Genauigkeit der Phrasierung, das Voranschreiten der Sonatenform, das überzeugt auf Anhieb. Gerade das Einfache gelingt. Als irgendwie goldrichtig erweist sich das Tempo, auch so einfache Dinge wie der Wechsel von Laut und Leise „klingen“, und ein Crescendo hat sein Woher? und sein Wohin? So soll es sein. Geglückt auch das Andante, das wird so locker gespielt und klingt so zwingend. Das Trio kommt frisch wie selten. Auch hier ist der RBB dabei. Mallwitz hat Pumps an den Füßen, dirigiert mimisch suggestiv, ist reaktionsschnell bei der Sache, hat einen Draht zu Schubert und eine Menge Talent.