Ist der Deutschen Oper bewusst, dass ein Vorstellungsbeginn von 16 Uhr 1.800 Berliner Familien das nachmittägliche Plätzchenessen unmöglich macht?

Das Haus an der Bismarckstraße zahlt es bei der Wiederaufnahme von Tristan und Isolde den Besuchern allerdings heim, zwar nicht in Form von Vanillekipferln, aber – immerhin – in feinen Gesangskipferln. In der Inszenierung von Graham Vick, die aus Wagners Liebessehnsuchtswerk eine Wohnzimmeroper ohne Trost und Illusion macht. Öd das Bungalow-Heim, in dem ein Sarg und tropfnasse Terrassentüren dominieren (Bühne: Paul Brown).

Alles ist gesagt über die Tristanfigur, die Vick da auf die Bühne wuchtet, wenn Stephen Gould im 3. Akt keinen liebesentrückt Fiebernden, sondern einen grenzdebilen Alten verkörpert. So antriebslos sitzt Tristan schon im 1. Akt herum, als grämlich graue Anzugstype, ein Brautwerber aus dem Gruselkabinett. Irgendwie passt das zu Goulds sorgfältigem, neutralem, klug stimmschonendem Zugang zur Rolle. Für die Schmerzen, für die Lust findet Gould kaum einen Klang. Bei den Kraftstellen indes fährt er seinen imponierenden, helltönenden Tenor hoch. Erstaunlich, wie gering die Registerunterschiede immer noch sind. Im Leisen ist die Stimme reizlos.

Berlin Tristan und Isolde Nina Stemme

Aus anderen Regionen stammt die rotlockige Isolde der Nina Stemme. Stemme ist verbiestert im 1. Akt und lebenslustig im 2. Im 3. hängt sie, der Abenteuer überdrüssig, über Morolds Sarg. Ihrem statuarischen, durch Farbe, Klang und natürliche Kraft dominanten Sopran hört man die drei Jahrzehnte Bühnenkarriere an. Doch die satte mittlere, die bravouröse tiefe und flutende hohe Lage sind noch von unmittelbarer Wirkung. Mimik, Augen- und Körperspiel sind auf Höhe des Bühnengeschehens. Und Mild und leise? Die erste Silbe Weltabschiedsweh kommt aus brustiger Tiefe. Die Stimme zittert, erhebt sich, vibriert in den Spitzen, die sie mit einer Attacke meistert, in der man die Erfahrung bewundert, leuchtet Patina-herb mit nach innen gerichtetem Ton und erlischt im H-Dur-Nirvana der Schlusstakte (Hanno Buddenbrook: diese Auflösung, dieses entzückende und befreite Hineinsinken in H-Dur).

Ante Jerkunica (Marke) nutzt seine riesengroße Stimme kaum für eine Gestaltung des Anklage-Monologs. Der klingt äußerlich. Da ist wenig Wärme, auch weil Jerkunica lieber Kommas als den Text zwischen den Kommas singt. Besser gelingen das Hadern mit dem Schicksal, das Aufbäumen ganz am Ende, kurz bevor Isolde mit ihrem Schlussgesang einsetzt.

Die Inszenierung hat da ihre Meriten, wo sie Bilder umumkehrbarer Entfremdung zeigt. Aber sie setzt zu selbstverliebt auf die Tiefenpsycho-Schiene. Da wandeln Nacktgestalten, heben ein Grab aus und sitzen rätselschwer herum. Sind es Eva und Adam? Isolde und Tristan? Eros und Thanatos? Was machen die Hinkelsteine in Isoldes Garten? Heroinspritzen müssen wie im Görli den Trank ersetzen. Reizvoller erscheint die Idee, den dem Zuschauerauge verborgenen Bereich hinter der Verandatür als Todeszone zu begreifen, in die die Menschen – wenn das große Sterben im dritten Akt beginnt – in die hehr erhab’ne Liebesnacht schlurfen. Und hallo, Intendanten! Altgewordene Tattergreise in Schlussakten von Musikdramen hat man nun wahrlich genug gesehen. 

Tristan und Isolde Deutsche Oper Berlin Applaus

Dafür singt Kurwenal Martin Gantner die Spotttiraden (Darf ich die Antwort sagen?) hell und markant timbriert, im 3. Akt freilich die wunderschönen Dialoge mit Tristan – passend zur Inszenierung – ohne allzu viel Gefühl. Hörenswert die feine Brangäne von Daniela Sindram, die gewiss keine Schauspielerin von hohen Gnaden ist, die die Stimme in der tiefen Lage dunkler macht als sie ist, aber die betörend schön und kontrolliert singen kann. Man hört, dass die Rufe des 2. Akts für sie harte Arbeit sind. Präsent und hell der gute Melot von Jörg Schörner. Auch der Hirt von Peter Maus (dick und missmutig sitzt er an Kurwenals Tisch – gut) ist ein Vergnügen. Der drahtig gesungene Seemann kommt von Matthew Newlin, der Rasierschaum-Steuermann von Byung Gil Kim.

Ein paar Worte zu Donald Runnicles.

Das Orchester der Deutschen Oper Berlin exponiert unter Donald Runnicles einen schwergängigen, nach innen gewandten Klang. Diesem Klang erlaubt der Bismarckstraßenchef allenfalls, sich zu zähem Strömen zu verflüssigen. Das ist Runnicles‘ kaltblütige musikdramatische Art. Das Dirigat verzichtet auf jedwede Brillanz. Wenn das Orchester stattdessen gräulich schattiert tönt, schier schieferdunkel selbst in den Momenten der Entgrenzung leuchtet, so höre ich von Runnicles ein durch und durch überzeugendes Wagnerdirigat. Wie um sich gegen Gefühlsduselei zu panzern, werden Streicherlinien so direkt wie möglich geführt.

Der Orchesterklang baut sich von Celli und Bässen, von tiefem Holz und tiefem Blech her auf. Dabei klingt dieser Tristan an der Deutschen Oper souverän, ohne Routine und kümmert sich mit unanfechtbarer Sachkenntnis um die Details am Partiturwegesrand. Gewiss kann man sich das chromatiksüchtiger vorstellen. Das Tempo ist langsamer als bei Thielemann und rascher als bei Barenboim. Aber der 2. Akt beginnt mit wirklich sehr lebhaftem Sehr lebhaft (da kommt das Orchester dann fast nicht mit).

Etwas seltsam der Strich von sehr grob geschätzt 150 Zeilen Text, darunter so zentraler Stellen wie Tristans um die Tag-Nacht-Thematik kreisender Monologe. Ist dies der Furcht vor vorzeitiger Erschöpfung der Protagonisten geschuldet? Nun, bei Don Giovanni und Figaros Hochzeit wird auch gerne gestrichen. Ich kann verstehen, wer daran Kritik übt, bin aber auch mit einem zehn Minuten kürzeren 2. Akt zufrieden.

Jetzt ist aber Schluss.

Noch einmal an der Deutschen Oper am kommenden Sonntag. Achtung! Schon um 15 Uhr! Oder dann Ende Mai mit Pesendorfer und Theorin.


Tristan-Kritik der Wiederaufnahme: Fast ein Wunder (Hundert11)