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Ein durchschnittlicher philharmonischer Abend. Nicht mehr und nicht weniger.

Liegt’s an Alan Gilbert oder an den tourneemüden Berliner Philharmonikern (aber sehen Sie sich den hammermäßigen Pullover von Simon Rattle an)?

Ich habe Gilbert in Verdacht.

Gilbert ist der Mann für Energie, Flow und speziellen Vibe. Gilbert ist Noch-Chef der New York Philharmonic und bei ihm strömt die Musik. Gilbert ist kein penibler Taktschläger, obwohl er den Stab superlocker und zugleich bewundernswert präzise führt.  

Bei Bartóks Violinkonzert Nr. 2 setzt Gilbert auf Schwung statt auf Struktur.

Kann es sein, dass Frank Peter Zimmermanns konzentriert leuchtender Ton nicht ganz d’accord geht mit Gilberts Al-fresco-Stil? In Zimmermanns hellem, fast metallischem Timbre spricht sich eine Reserviertheit gegen zu viel Sentiment aus. Wo Gilbert es blühen lässt und in die Vollen geht, drückt Zimmermann auf die Spaßbremse, versachlicht, stapelt eigenwillig Akkorde, regelt Gilberts pauschale Hitze runter. Gilbert gegen Zimmermann, das ist heute New Yorker Aufgedrehtheit gegen deutsche Wertarbeit. Dennoch, Zimmermanns Bekenntnis zu Bartók hätten um ein, zwei Blutstropfen wärmer sein können. Im ersten Satz fallen technische – sagen wir es mal so: – Laxheiten auf. Und hätte Zimmermann nicht generell ein langsameres Tempo (Andante!) gut gefunden?

Berliner Philharmonie 2016 Innenaufnahme Berlin Philharmoniker

Der Ort des Geschehens nach dem Geschehen / Foto: Peter Iljitsch Tschaikowsky

Mister Alan Gilbert! Sind die Bläser nicht einen Ticken zu laut? Die Stimmgruppen spielen für sich, nicht für einander. Klingt das alles nicht leicht unterkonzentriert?

Die beiden heiter extrovertierten Stücke von John Adams – Short Ride in a Fast Machine und Lollapalooza – empfehlen sich nicht gerade als Begräbnismusik, zumindest nicht im ernsten Berlin. Es sei denn, man begräbt einen Alt-68er, der etwas von diesem verrückten kalifornischen Strahlen mit in die Ewigkeit nehmen will.

Und Peter Iljitsch? Peter Iljitsch Tschaikowskys Sinfonie Nr. 4 wird schön gespielt, butterweich phrasiert, die klangliche Frische ist enorm, vielleicht ist Gilbert hier und da ein bisserl schnell unterwegs, das Fagott ist abgöttisch gut (Ende Andantino), aber, bitte, wo bleibt die steineerweichende Tragik? Ja, die Berliner Philharmoniker machen ihre Potenzen hörbar, am krassesten in der Finalcoda. Hier packt Gilbert die philharmonische Superwaffe aus: den enthemmten Brachial-Orchesterschlag, ein philharmonisches Markenzeichen, für das eine markenrechtliche Absicherung unnötig ist, weil es eh niemand nachmachen kann.

Die Orchesteraufstellung: 1. Violinen, 2. Violinen, Celli, Bratschen, Bässe rechts hinten.

Schon wieder sitzt dieser äußerst talentierte Rotschopf Félix Dervaux am Solohorn.

Fazit: nichts zum Ausflippen, aber nach dem Tschaikowsky-Finale sind Sie garantiert reif für die Adventszeit.