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Das Konzerthausorchester Berlin spielt in der Philharmonie Berlin. Aber hallo!

Solches Konzertsaal-Hopping macht das Musikfest Berlin möglich.

Das Orchester reist vom Gendarmenmarkt mit Hans Werner Henzes zweitem Violinkonzert namens Il Vitalino raddoppiato an. Das sechssätzige Werk stammt aus jener Phase, als Henze wild mit Neostilen experimentierte. Das schlug sich im Violinkonzert Nr. 2 in swingendem Neobarock nieder. Der in Chaconne-Form organisierte Reigen barockinspirierter Melodien ist konzeptionell hoch interessant, Neue-Musik-technisch gesehen indes nicht gerade systemrelevant – als Hörer kommt man sich vor wie im Schonwaschgang der Zeitmaschine. Doch der Vitalino raddoppiato wirkt wunderbar komplex und klar. Und dann ist Julia Fischers Interpretation auch noch berückend flüssig, bewundernswert intelligent und unvergleichlich souverän. Ihr Ton hat beste Waldhonigqualitäten: Er ist dunkelglänzend und tiefklar. Im Ernst, Julia Fischer spielt, wie wenige derzeit spielen.

Allemal sehenswert ist Fischers konzentrierte Nase unter der gerunzelten Stirn. Das Muster ihres Kleides löst bei mir Skelettassoziationen aus.

Das Konzerthausorchester lokalisiert den Henze hübsch zwischen Spätest-Strauss (Metamorphosen) und Neo-Strawinsky (Violinkonzert) an. Lobenswert sind das Englischhorn von Nadine Resatsch, das Fagott Michael von Schönmarks, die Oboe Szilvia Pápais und Stefan Giglberger am Solocello (die Namen müssten stimmen, man kennt die Leute doch nicht so wie die der Philharmoniker). Dirigent Iván Fischer leitet mit der angemessenen Lockerheit.

Als Zugabe spielt Julia Fischer vor den Ohren der versonnen lauschenden Orchestermusiker die Sarabande aus BWV 1004.

Anton Bruckners Sinfonie Nr. 7 entführt die Zuhörer für gewöhnlich ins Wagner-crazy Kaiserreich der 1880er Jahre. Heute nicht.

Das Thema setzt so metrisch nachgiebig, so schlapp ein, als hätte Iván Fischer viel Probenzeit mit Julia und wenig Probenzeit mit Anton verbracht. Innerhalb der Themenkomplexe kommt man sich oft vor wie auf einer Achterbahnfahrt. Eine gewisse Inkonsistenz in Tempofragen und Artikulation sollte auch weiterhin Merkmal dieses Bruckner-Abends bleiben.

Ich horche zum ersten Mal beim rhythmischen dritten Thema – einem Haufen wohlorganisierter Sechzehntel und Achtel – auf. Da ist Iván Fischer schön locker. Das ist, was Fischer will, was Fischer kann. Auch den serenadenleichten Schlussgedanken der Exposition dippt Fischer nur kurz in die Romantik-Sauce. Sehr schön. Und dann spielen die stürmischen Celli das 2. Thema in der Durchführung („hervortretend immerfort“). Und in der Reprise besitzt das dritte Thema gar eine nicht unstatthafte Note Dvořák. Das ist neu und hört sich gut an. Fischer sieht Bruckner nicht als polyphones Monster, das man mit furchtlosen Dreifach-Fortes erschlagen muss (obwohl die Kulminationsstellen sehr laut sind). Gut so.

Andererseits, auch das Adagio gefällt anfangs nicht. Streitlustig, aber schwammig beginnt es, als trügen die Musiker Frotteeschlappen mit Trekkingsohle. Motto: viel Hektik auf wenig Raum. Das sangesfreudige zweite Thema – hoppla! – spielen die Musiker des Konzerthausorchesters in Nico-Rosberg-Tempo. Schneller dürfte das heutzutage kaum jemand machen. Aber es passt. Die weltberühmten Geigenfigurationen kommen lyrischluftig daher – Kontakt zu überirdischen Sphären will Fischer nicht aufnehmen.

Dennoch: Iván Fischers Sicht auf die Bruckner-Siebte ist spannend und bedeutsam. Es mag konsistentere Bruckneraufführungen geben. Aber selten kurzweiligere.

Interessant, wie Fischer mit kraftvoller Geste im Adagio einmal die simplen Viertel der Kontrabässe (oder Celli) anschiebt, während die anderen Streicher mit weit anspruchsvolleren Aktionen beschäftigt sind. Klar, dass Fischer kein stoischer Taktschläger ist. Im Scherzo, aber auch an anderen Stellen, konnte man die zutiefst humoristischen Seiten von Fischers Dirigierstil beobachten.

Diese Orchesteraufstellung sieht man selten: Violinen 1 links, dann Celli, Bratschen, Violinen 2 rechts. Kontrabässe hinten in einer Reihe. Trompeten links hinten, Bläser mittig, Hörner rechts hinten.

Fazit: spannender, facettenreicher Musikfest-Abend, der sich – programmtechnisch und interpretatorisch – Ungewöhnliches wagt.