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Andris Nelsons macht die Philharmonie unsicher, wieder einmal.

Heute nelsonsiert der Lette die französische Küche. Entrée Debussy, plat principal Berlioz, dazwischen schiebt Nelsons listig Varèse.

Anders ausgedrückt: Repertoire-Allstars von Claude Debussy und Hector Berlioz sandwichen Edgard Varèse. Der Sinnkern der Programmzusammenstellung mag im bilderstürmerischen Impuls der einzelnen Werke zu finden sein, womöglich auch in der Tatsache, dass jeweils eine poetische Konzeption die Komposition förderte.

Debussys filigraner Geniestreich Prélude à lʼaprès-midi dʼun faune (1890) nach Mallarmé  fordert seit jeher zum Konsumeskapismus auf. Ab mit uns in die Scheinwelt der Impressionisten-Antike! Und was macht Andris Nelsons? Viele Wege führen zu Debussy. Nelsons geht den symphonischen. Folgerichtig deutet er „Prélude“ als Vorgänger von La Mer, reichert das schläfrige Dehnen des Klangs mit symphonischer Dichte an, injiziert dem Vibrieren subtiler Klangflächen das Strömen großformatiger Musik. Und die Bläsersolisten Dufour, Fuchs und Mayer setzen das Primat der Linie durch.

Edgar Varèses große Orchesteretüde Arcana (die Berliner Philharmoniker spielen die 1960er Fassung) erklingt als Gratwanderung konträrer Aggregatzustände. Den Musikern wird da viel solistische Sprunghaftigkeit abgefordert. Nelsons auf dem Podium macht’s ja vor. Immerhin klingt Varèse da wie ein waschechter Roaring-Twenties-Klassiker. Die poetische Konzeption der Arcana wäre im kompositionsauslösenden Traum des Komponisten zu suchen („J’ai rêvé de deux Fanfares“, hier lesen, Seite 2, Spalte rechts)

Berlioz (Symphonie fantastique) lebt von einer lebhaften, gestaltenreichen Wiedergabe. Andris Nelsons gestaltet Musik als Rohstoff-Knetmasse, betatscht Motivgruppen, knetet Crescendi. Themen sind für Nelsons Gestaltungswillen Freiwild. Alte Karajanisten mochten so etwas wie eine formbildende Hüllkurve vermissen. So intensiv Nelsons sich auf dem Pult verausgabt, so intensiv soll der Hörer im Konzertsessel miterleben. Solche Übergriffigkeit macht noch jeden Klassiker zum Work in progress – ganz nach dem Motto „Ne cesse jamais d’apprendre“. Die „Szene auf dem Land“ ist nah an der Perfektion, was die Sorgfalt der Phrasierung angeht. Nelsons Rechte krault dabei die Luft, als sei’s der Nacken von Ehefrau Kristīne Opolais.

Sehe ich richtig? Nelsons trägt Bärtchen. Doch sonst ist Nelsons der Alte. Piano: Andris Nelsons kauert in geduckter Stellung hinter dem Notenpult wie ein Raubritter im Hinterhalt. Crescendo: Nelsons postiert sich im Ausfallschritt wie beim Beine-Po-Workout („Regelmäßig ausgeführt, versprechen Ausfallschritte wohlgeformte Oberschenkel sowie einen knackigen Hintern„). Decrescendo: Nelsons lehnt sich bis an die Grenze des statisch Möglichen zurück.

Weitere Eindrücke bei Nelsons: Der Brahmslappen mitten auf der Stirn. Der Dirigierstab, von der rechten Faust umklammert, wenn das Orchester Fahrt aufnimmt. Andris Nelsons strahlt glücklich wie ein Schuljunge, wenn etwas gut gelingt.

Das Solohorn bläst wieder einmal Eric Terwilliger vom BRSO. Er geht im Debussy wunderbar diskret vor. Berlioz fordert vier Fagotte, eines spielt Karoline Zurl vom DSO. Frau Zurl bekommt von Nelsons die Applausblumen. An den ersten Pulten der Geigen Kashimoto und Buschatz.