Schlagwörter

Kirill Gerstein sitzt am Flügel. Sergei Rachmaninow Klavierkonzert Nr. 2.

Vor zwei Tagen spielte Daniil Trifonow im Konzerthaus ein ausgewogenes, hochstehendes Rachmaninow-Drittes.

Jetzt enttäuscht Kirill Gerstein in der Philharmonie.

Nicht technisch-pianistisch wohlgemerkt. Der Anschlag hat Schliff. Die Modellierung des Tons geschieht mit unnachahmlicher Leichtigkeit. Arpeggien haben blendenden, gleichsam gelockerten Glanz. Gerstein besitzt die Ausdauer für Rachmaninows kräftezehrende Steigerungen. Gersteins Spiel ist voll und ganz aus Klang gedacht, ich höre träumerisches Chiaroscuro, die lyrische Kantilene bleibt gedämpft.

Wer sich den Kuschelattacken Gersteins entziehen will, darf jetzt die Hand heben und „Aber“ sagen.

Aber: Der Anschlag besitzt wenig Bedeutung, wenig klangliches Eigengewicht. Für Rachmaninows Melancholie hat Gerstein im zweiten Satz zwar empfindsame Farbe sowie weiche Eleganz, aber kaum Plastik oder dauernden Ausdruck. Das wirkt taktelang, ja minutenlang wie samtweiche Etüde, nicht wie Klavierkonzert. Dazu kommt eine Handhabung der Agogik (bisschen Tempo raus, bisschen Tempo rein, dazwischen eine Soft-Aufwallung), die man als einfallslos bezeichnen kann.

So bleibt mir nichts übrig, als gewissermaßen um Gerstein herum und an Gerstein vorbei Semyon Bychkow und den Philharmonikern zuzuhören. Den ersten Satzes lassen die Musiker, schwermütige Akzente setzend, aus der sich hebenden und senkenden Dünung des ersten Themas entstehen. Gut.

Kirill Gersteins Zugabe ist die Etüde für die linke Hand op. 36 des russischen Komponisten Felix Blumenfeld. Die Zugabe bestätigt alles zuvor Gesagte zu Gersteins Rang.

Da ist Peter Tschaikowskis Symphonie Nr. 3 schon eine andere Nummer. Die Berliner Philharmoniker machen aus Tschaikowskis Dritter ein Gedicht. Man versteht, dass Nr. 3 nicht Tschaikowskis beliebteste Sinfonie wurde. Aber wie phantasievoll Tschaikowski mit der symphonischen Form im Allgemeinen und mit der Sonatenform im Speziellen umgeht, das ist extrem kurzweilig. Fugale Syntaxen wechseln mit Partien ungehemmter, fast ländlicher, sommerlicher Frische, und über allem lächelt das Genie Tschaikowskis. Die Philharmoniker geben ihr Bestes.

Es ist selten, dass keiner der Solo-Trompeter da ist. Aber zwei erste Konzertmeister, Kashimoto und der immer blendend gelaunte Bendix-Balgley (gebürtig aus Ashville, North-Carolina, da kam auch Fitzgeralds Frau her).

Vergessen wir vorerst Gerstein (bis er besser wiederkommt) und halten uns an Tschaikowski.