Kritik INAUGURAZIONE LA TRAVIATA 2013 lesen!

So, heute nicht in der Staatsopern-Bohème mit Andris Nelsons, sondern zuerst im Theater und dann auf Arte die Saisoneröffnung („Inaugurazione“) der Mailänder Scala gehört. Eine Inszenierung des Lohengrin von Claus Guth, die auch ohne Schwan und notorisches Lohengrin-Weiß zu funktionieren scheint. Die Inszenierung endet in einem dunklen Schilf-Wasser-Ambiente, worin Elsa schlussendlich ersäuft. So weit zur Wozzeckisierung des Lohengrin durch Claus Guth. Sensationell, wie Jonas Kaufmann im 3. Akt auf Telramund losgeht, worauf Telramund im flandrischen Schilf verschwindet, allerdings weniger sang- und klanglos wie dies Elsa kurze Zeit später tut, sondern mit echtem Theaterschrei.

Jonas Kaufmann: Vielleicht, vielleicht Kaufmanns beste Rolle, weil Jonas Kaufmann dem Lohengrin das asexuelle Roboto-Image nimmt und etwas Don-José-haftes gibt. Deutlich hörbar ist während des gesamten Lohengrins, dass Kaufmann das Timbre seines Latin-Lover-Tenors im Piano und Mezzoforte zu mäßigen und der Rollengestaltung gefügig zu machen versucht. In „das Gott mir angetraut“ hält Kaufmann den hohen, heldischen Ton nur während der ersten Hälfte, das Ende klingt farbloser, weniger sexy. Für solche überall hörbaren Unausgeglichenheiten entschädigt die pure klangliche Üppigkeit der Glanzstellen („aus Glanz etc“). Hmm, Kaufmanns Diktion klingt komischerweise eine Spur undeutsch.

„In fernem Land“: im einleitenden Piano-Teil enttäuschend wegen der Quetschvokale und überhaupt wegen der unnatürlich klingenden Piano-Stimme – klingt wie ein Ferrari in der Tempo-30-Zone. Besser ab „Wer nur dem Gral“. Dann etwas selbstgefällig phrasiert bei „mit überird’scher Macht“. Dann etwas Bedeutungshuberei („jedes Bösen Trug verloren“). Dann plötzlich, wenn die volle Stimme durch Piano-Schleier bricht wie die lombardische Sonne durch die Nebel der Po-Ebene, badet man als Zuhörer in Tönen voller galaktischen Tenor-Pathos („Nun hört, wie ich verbotner Frage lohne!“) Liege ich ganz falsch, oder hat Kaufmann auf „Heiligthum bewacht“ auf „bewacht“ statt zwei Mal E einmal E und einmal Terz runter Cis gesungen????

Annette Dasch: Anja Harteros ist krank. Annette Dasch wird von Blumen überschüttet. Ein Augenschmaus als fesselnde Bühnenfigur, insbesondere als personifiziertes Häufchen Elend in der 3. Szene des letzten Akts. Weit aufgerissene Augen, hübsch, wie sie sich an das Uniformjackettl klammert. Als Elsa wie schon in Bayreuth nicht mein Fall. Zu wenig Farbe, zu wenig Singen, eine schmale Höhe, vor allem eine recht geringe Anzahl eindeutig identifizierbarer Vokale in der Höhe, und immer etwas überfordert klingend.

René Pape: für den König in den wuchtigen Ansprachen doch eine Spur zu lyrisch. Vielleicht empfand Pape dies ebenfalls. Jedenfalls hörte ich den einen oder anderen Pape-untypischen Pathos-Drücker („wir wollen tooaapfer ihn empfahn“). Und auch ohne eigentliches Grauen bei „Mich fasst bei Eurem Anblick Graun“. Aber natürlich mit lyrisch timbriertem Ebenmaß des Klangstroms seines noblen Basses bei vielen anderen Passagen.

Evelyn Herlitzius: räusper… Hinreißend, doch ich fand Herlitzius weniger beeindruckend als als Kundry (unter Runnicles) und Brünnhilde (unter Rattle).

Daniel Barenboim dirigiert Lohengrin à la Berlin, nur dass das Orchester der Scala noch etwas leidenschaftlicher beim Zupacken und noch ungeordneter im Ungestüm ist. Brachiales Brausen des Vorspiels zum 2. Akt. Die Geigen KÖNNEN schrammeln, und sie KÖNNEN beim feinsten Schimmer-Pianissimo viel weniger lyrisch klingen als die Staatskapellen-Geigen, wie ich von Berlin aus anmerken will. Der Chor doch mit Problemen, zusammenzubleiben, aber nichtsdestoweniger frisch und stürmisch. Interessant, dass Barenboim das Orchester beim Schlussapplaus NICHT auf die Bühne holt, wie eigentlich immer nach Wagner in der Staatsoper Berlin. Bedauerlich der Schnitt im 3. Akt nach Elsas „Mir schwankt der Boden“, wo es gleich mit „Der Schwan! der Schwan! der Schwan!“ des Chors weitergeht.

Die mit einer Art kokettem Näseln moderierende Arte-Kommentatorin Annette Gerlach war das einzige Argument GEGEN das Schauen dieser Scala-Live-Schaltung, das mir bekannt ist.

Kritik/Review Inaugurazione La Scala Lohengrin: orchestermäßig einerseits herrlich stürmisch, andererseits zu wenig Schimmer. Jonas Kaufmann eine Wucht – trotz seiner bekannten Probleme, laute und leise Passagen mit einer einzigen Stimme darzustellen und also trotz der damit verbundenen Unzulänglichkeiten für die Interpretation. Annette Dasch ist generell nicht mein Fall, Evelyn Herlitzius war heute Abend nicht mein Fall. Claus Guth macht sie gar nicht schlecht, diese nuova produzione.

Prodution/Besetzung: Daniel Barenboim (Dirigent), Claus Guth (Inszenierung), Jonas Kaufmann (Lohengrin), Annette Dasch (Elsa), René Pape (König), Tomas Tomasson (Telramund), Evelyn Herlitzius (Ortrud), Zeljko Lucic (Heerrufer)