Es ist die 56. Ausgabe der Wittener Tage für neue Kammermusik. „Witten 2024“ versammelt 14 Konzerte zu einer konzentrierten Rundumschau der Neuen Musik mit Schwerpunkten bei Italien und Nordamerika. Francesca Verunelli ist Festivalskomponistin 2024, aus Kanada und den USA kommen Stücke von Raven Chacon, Liza Lim, Thierry Tidrow und George Lewis. Zweiter Achsenpunkt: Werke für Blechbläser, interpretiert von Marcel Blaauw und dem Ensemble The Monochrome Project.

1. Tag: Djordjević, Lange/Berweck/Lorenz, Seidl, Dohmen, In margine, Kubisch, Jodlowski, Kessler

Monochrome lightblue darkness von Milica Djordjević heißt denn auch ein Stück für acht Trompeten. Es verteilt ein einziges Timbre über neun Minuten. Zu beobachten, wie der dergestalt monochrome Oktettklang an Färbung, lebendiger Tiefe und artikulatorischer Schärfe gewinnt, macht hier den spezifischen Reiz aus. Das Kurzwerk wirkt aufgrund seiner Konzentration klassisch. Ob es nun hellblaue Dunkelheit ausstrahlt, sei dahingestellt. Interpreten sind das Trompetenkollektiv Monochrome Project. In Hannes Seidls Unfinished Circles hockt jeder Spieler eines Streichquartetts (in Witten das Arditti Quartet) in einer holzgerahmten, dezent von unten ausgeleuchteten Glasvitrine.

Alle Fotos: © WDR / Claus Langer

Inwiefern in dem Stück, das nicht ohne Längen ist (35′), die räumliche Trennung tatsächlich die angenommene neoliberale Vereinzelung aufscheinen lässt, mag im Auge (und eher nicht im Ohr) des Betrachters liegen. Die dabei vorprogrammierte Unschärfe ist Strategie. Kräftige isorhythmische Striche markieren die Mitte des Stücks, dessen Attraktivität auch von der Ehrwürdigkeit des Interpretenensembles zehrt. Gibt es einen Trend weg von den festivaldramaturgisch multipel einsetzbaren 8- bis 12-Minutenstücken, die bislang landauf, festivalab zu hören waren? Andreas Dohmens Sologitarrenwerk FPP jedenfalls ist nicht viel kürzer als Seidls Quartett, besitzt bei sinfonischer Ausdehnung (31′) ein überraschend karges, elektronisches Relief (E-Gitarre Yaron Deutsch). Es fasziniert, sein introvertiert frugaler Gestus trägt aber nicht über die Länge. Dennoch irgendwie gut.

Ganz ohne Hinterfragungsstrategien oder Solo-Exzesse kommt In margine von Francesca Verunelli aus. Ignorieren wir die Ausführungen der Komponistin zum Themenkomplex „Marginalien“. In margine – man ist dankbar über jeden nicht englischen, will sagen nicht maximalglobal verwertbaren Titel – wurde vor genau einem Jahr beim Kölner Achtbrückenfestival uraufgeführt und im Winter bei Ultraschall in Berlin präsentiert. In margine ist haptisch präzise und rätselhaft – und verfügt über einen genau austarierten Spannungsbogen. Es ist eines der besten des Festivals. Das Ensemble Resonanz spielt unter der Leitung von Friederike Scheunchen.

Lange/Berweck/Lorenz: Samplesalat vom Synthesizer

Ergibt ein Neue-Musik-Festival ganz ohne elektronische Musik Sinn? In Witten hält das Trio Lange/Berweck/Lorenz die elektronische Fahne hoch, nämlich hinter drei Synthesizern, und mit drei Uraufführungen. Pierre Jodlowski serviert Artefacts (2023, 15′) als Samplesalat. Jodlowskis neckische Artefakte tönen als schnippisch collagierte Schnipselklänge und blubbern munter daher zwischen durchkomponiert und Spontanverwertung. Im Gegensatz dazu stattet Christina Kubisch ihr Stück Electrified (2023, 17′) als verhangene, wolkig treibende Klangstudie zwischen Weltallweite und Assoziationsnähe aus, ganz wie es sich aus der Spannung zwischen softig wattiger Prozessualität und crunchigen Details ergibt. Danach lebt La montagne ardente (1985/2024, 12′) des wenige Tage vor Festivalbeginn 86-jährig verstorbenen Thomas Kessler als von witzigen Pulsationen und Textbrockeneinwürfen durchbrochene Kurzstudie auf.

Raven Chacon Call for the Company 2024, Report 2001, © WDR / Claus Langer

2. Tag: Lim, Lewis, Ensemble Recherche mit viel Video, Raven Chacon

Die Samstagvormittagmatinée bringt im Gesprächskonzertformat zwei kürzere Stücke für Trompete solo von Liza Lim und George Lewis. Lims Shallow Grave ist für rekonstruiertes urgeschichtliches Tonhorn (Teil 1) und moderne Trompete (Teil 1, 2023, 9′) gesetzt. Die Frage bleibt, ob die Singularität der Besetzung die amateurhafte Kargheit von Teil 1 aufwiegt. Und während Lewis‘ Buzzing (2024) sich als von fröhlicher Ungestümheit erfüllt erweist, denkt man, dass diese Konzertmatinée ausgezeichnet ist. Solist ist beide Male Marco Blaauw.

Viel Video (Manuel Gerlach) läuft im Uraufführungs-Packerl, das das Ensemble Recherche aus dem Breisgau mit an die Ruhr bringt. Es sei erlaubt, nur auf die Musik einzugehen. Nur dünnen Wert besitzt offenbar die tönende Archivallegorie search: pink fingers fragile archives von Sara Stevanovic (2024), eine meiner Meinung nach zähe Angelegenheit von wolkiger Unbestimmtheit. Hörbarer wirkt von AJ Villanueva kun-di-kam-pa-na (2024): Es bewältigt die eigene Länge besser, indem es Impulse zu Pulsationen von unterschiedlichem Tempo gruppiert, verschwinden und variiert wiederkehren lässt. Kurze Einwürfe von Blasinstrumenten antworten spirituell aufgeladenen Glockenklängen. Ein knapp zweiminütiges epiloghaftes Feld schließt ab. Das unaufgeregte Pathos, das kun-di-kam-pa-na zu eigen ist, schadet kaum. Problematisch dann wieder KUSHA von Monthati Masebe (2024), für das sowohl klassische als auch afrikanische Instrumente zum Einsatz kommen. Das Werk entwickelt sich in seinen besseren Teilen spontan, im Zentrum hört man graphische Krakeleien neben heftigen Spontan-Verknäulungen der Bläser. In seinen dürftigeren nervt naiver Flötenton über Kirchentagsrhythmen. Der Gestus bleibt allenthalben der des narrativ locker Gereihten. Die Texteinspieler bleiben unverständlich. Das Ensemble Recherche spielt unter Friedemann Dupelius.

Mehr auf Qualität Reinzoomen tun die zwei Stücke des US-Amerikaners Raven Chacon. Report (2001) ist ein Schusswaffenstück für unterschiedliche Kaliber: für Revolver, Selbstladebüchsen, halbautomatische Waffen, Schrotflinten. Die Schützen haben Notenständer vor sich stehen und feuern nach Partiturmaßgabe. Das Stück ist saftig, kurz und knackig. Call for the Company, in the Morning (2022/24, 12′) beschäftigt sich mit der Jagd. Hier begegnet erneut ein starker außermusikalischer, narrativer Kontext. Es interpretiert das Monochrome Project unter Leitung des Komponisten. Die beiden Chacons sind ein Höhepunkt der Wittener Tage für neue Kammermusik 2024.

Festival Neue Musik Witten 2024,© WDR / Claus Langer

Es ist so eine Sache mit zeitgenössischen Stücken, die länger dauern als Bruckners Vierte. Wohin damit? Wohin mit den Installationen, die in Gegenwartsmuseen Riesenräume besetzen? Francesca Verunelli tischt uns crazy Festivalteilnehmern die sitzfleischherausfordernden Songs and Voices (2023) auf. Das Werk wird um etwa drei Zentren großräumiger Verdichtungen herum aufgebaut. Freilich steht die extensive Form in einem ungünstigen Verhältnis zum ästhetischen Ertrag. Nach dem kurzen, sehr hörenswerten In margine ist Verunellis Langwerk eine eher fehlgeschlagene Relevanz-Beglaubigung. Die Neuen Vocalsolisten singen, das Ensemble C Barréca spielt.

3. Tag: Unfolding, Jakober, Tidrow-Schüttler-Blondeau

Nicht hören konnte ich Verunellis Unfolding II und Andare für Streichquartett mit dem Quatuor Béla. Thierry Tidrows Les spectres de l‘utopie („Utopiegespenster“) sind bitterzarte Umkreisungen der Hoffnungslosigkeit (2024, 15′), so offen legt kaum jemand düstere Stimmung frei. Den ästhetischen Bizeps angespannt hat der Komponist Sasha Blondeau in Autres inappropriés (2024, 15′). In der Unschärfe zärtlich scharfer Streicherballungen spricht sich Eigenes aus. Man hört, dass dies Innenraumporträts sein sollen. Das tut zwischenzeitlich ganz schön kicken. Martin Schüttlers lustige, aber auch etwas belanglose Rosenkavalier-Umschreibung für elektronisch umgeshapte Sopranstimme (Léa Trommenschlager, auch schon bei Tidrow) heißt Ich bin dein Boy (2024), das Hofmansthalsche Bub durch die neudeutsche Entsprechung ersetzend. Zu hören ist das Straßburger Ensemble Lovemusic.

Abschlusskonzert: Fallah, Fujikura, From scratch

Das Abschlusskonzert des Wittener Festivals bestreitet wie stets das WDR Sinfonieorchester, heute unter Lucie Leguay. Von den drei Uraufführungen ist Chains von der Iranerin Farzia Fallah die uninteressanteste (21′). Die titelgebenden „Ketten“ suchen vermutlich den politischen Kontext. In das spacig an- und abhallende Kontinuum des Orchesters sind kurze Keile des Blechs wie Splitter eingelassen. Diese wirken als Schärfungen, doch prägend bleibt der Eindruck eines richtungslosen Waberns. Schön gemacht, aber zu viel Softeis im Klang. Interessanter wirkt das Trompetenkonzert von Dai Fujikura (19′). Es setzt den Trompetenklang vor den des Orchesters.

Witten Festival für neue Kammermusik 2024 Konzert Other histories

Weniger das jazzige Melos, das es sich etwas einfach macht, gefällt, als vielmehr der konstituierende Kontrast von konzentriertem Trompetenton und den Orchestereinsätzen. Eine Kadenz wird zu repetitiven Figurationen genutzt. Marco Blaauw ist der Solist an der Doppeltrichtertrompete. Die diesjährig Festivalportätierte Francesca Verunelli kommt abschließend noch einmal mit From Scratch zum wohlverdienten Zug (13′). Hyperaktivitätsfelder, wobei man witzige Akzentverlagerungen registriert, wechseln großräumig kontrastierend mit ruhigeren Zonen. Der Eindruck bleibt zwiespältig und ist irgendwo zwischen Auf-der-Stelle-Treten bzw. Schon-mal-gehört und ungeteilter Mithörfaszination zu verorten. Die Krux für die Kritik liegt doch auch beim Format „Schlagzeugkonzert“, das Soloinstrument (Vanessa Porter) macht eben pausenlos Krach.

Merke: Es gibt auch gelingende Zeitgenössische-Musik-Festivals ganz ohne Enno Poppe.

Gehört über WDR3, weswegen der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu loben ist.