Martha Argerich spielt beim Klavierkonzert Nr. 2 op. 19, dessen Thema wohl schon von 1790 stammt, so auskostende Temporückungen, blendet Beethovens Phrasenenden dynamisch so ab, dass die Frage nach dem Wert des Frühwerks nicht aufkommt.

Beethovens Klavierkonzert Nr. 2, ist das genial? Es gibt das übliche neue Thema in der zweiten Exposition. Soloexposition und Durchführung fangen mit derselben Phrase an. Der Repriseneintritt ist vielleicht der unattraktivste in Beethovens Orchesterwerken. Und die brillante Kadenz ist aus dem Jahr von Beethovens 5. Klavierkonzert.

Das Adagio mit seinem unaufhörlich neu formulierenden Ansetzen des Themas, dem Argerich Nuancen und Schattierungen des Leisen abgewinnt: Monothematik, die nur unterbrochen wird von einem zwei Mal auftauchenden, viertaktigen Tutti-Solo-Dialog. Und doch kann man eine Art Reprise hören, eingehüllt in ein Tastenrieseln von Zweiunddreißigsteln, erst Solo, dann Tutti über den weiterlaufenden Zweiunddreißigsteln Argerichs. Ihr so dichterisches Spiel zentriert Phrasen um scharf leuchtende Akzente, realisiert Innehaltensrubati wie niemand sonst, lässt den ganzen Satz in schwebende Molltrübungen abrutschen. Die con-grande-espressione-Passage zum Schluss – Solo, Streicher mit dem Themenkopf, Solo, Streicher mit dem Themenkopf – hört man fast als Innehalten im Nichts.

Die Berliner Philharmoniker spielen großartig. Wenn auch nicht ganz fehlerfrei. Barenboim hat freilich ganze Strecken lang die Hände im Schoß. Es sind Momente zum Erinnern, als Barenboim im Brahms-Poco Allegretto während langer Sekunden vollkommen regungslos bleibt, und die Philharmoniker, allein gelassen, einen Brahms vom anderen Stern spielen.

Der eigentlich kurze Abend – kürzestes Klavierkonzert Beethovens plus Brahms‘ kürzeste Sinfonie – wird immer länger. Das liegt auch daran, dass Martha Argerich und Daniel Barenboim 15 Minuten für Schuberts in Ausdrucksdiskretion verhülltes Rondo D.951 brauchen. In dieser Zeit schaffte Joyce DiDonato vor Kurzem Unter den Linden sechs Zugaben inklusive Erklärungen und Danksagung.

Es ist die langsamste jemals gehörte Sinfonie Nr. 3 von Brahms. Der Philharmonikerklang ist umhüllt, als wäre die Musik hier plötzlich eigener Endlichkeit eingedenk. Im Zentrum stehen doch Andante und Poco Allegretto. Ersteres mit wunderbaren Klangmischungen von Bratschen und Celli, schier unglaublich das espressivo dolce. Auch weil man gewiss bei Celibidache-Tempo oder sogar darüber hinaus ist. Dann ein umwerfend umwölkter Blechklang. Das ganze Poco Allegretto ist von wundersamer Ausdrucksscheu, selbst bei der Hornstelle. Das letzte Wort ist da noch nicht gesprochen. Dazu ist das weiträumig und intensiv musizierte Finale da, ein Statement gegen Vordergründigkeit und Tempomacherei.

Apropos letzte Worte und die Zeit im Allgemeinen. Daniel Barenboim und Martha Argerich waren schon Musiker zu jener unvorstellbar weit entfernten Zeit, da Bruno Walter, Misha Elman und Wilhelm Furtwängler auf der Höhe ihres Könnens standen. Und einen zweiten Schritt zurückgehend ist man in der Zeit, da Walter 1884 am Stern’schen Konservatorium in Berlin lernte, Elman 1904 im Berliner Bechsteinsaal mit dem Tschaikowskykonzert debütierte, Furtwängler 1906 Korrepetitor in Berlin wurde.

Ecco, wie gestern der Valzacchi im Rosenkavalier sagte.