Das livegestreamte Philharmonikerkonzert am Samstagabend war hörenswert. Barenboim springt für Mikko Frank ein, und Yefim Bronfman spielt Brahms, 1. Klavierkonzert. Beim ersten Hören spielt Bronfman fesselnd, konzentriert, immer lebendig.
Die Triller des Themas donnert Bronfman nicht in schneidendem Gleichmaß, stattdessen will er jeden Ton einzeln hörbar machen. Beim 2. Thema spielt die linke Hand die Figurationen als Formungen von wunderbar eigenem Gewicht. Es ist ein wirklich eindrucksvolles Konzert von Bronfman, der gebürtig aus Taschkent stammt, Israeli und US-Amerikaner ist („this sturdy little barrel of an unshaven Russian Jew“, schreibt Philip Roth in Der menschliche Makel). Bronfman spielt kraftvoll, der Ton ist breiter als bei Trifonow, der Musizierfluss überlegener und gelassener.
Und wie viel Raum nimmt sich der Pianist plötzlich bei der Reprise des Hauptthemas, trotz der kompakten Gedrängtheit der berühmten Trillerketten. Im Adagio setzt Bronfman die Akkorde über den Hörnern aus selbstverständlichster Werk-Vertrautheit heraus natürlich und unvorstellbar sicher. Bronfman drängt nicht, kein Milligramm seines Spiels rutscht in selbstgewisse Virtuosität ab.

Zu Hause, via Concert Hall, hört man Bronfman beängstigend detailliert, vermutlich baumelt das Hängemikro direkt über dem Instrument. Live klingt das Klavier in der Philharmonie ja meist, als käme sein Klang direkt aus dem Orchester, aus Celli oder Bratschen, flankiert von den Bläsern, und obendrauf die Flöten, wie eine fünflagige Schwarzwälder Kirschtorte.
Barenboim? Macht das gut. Die Temponahme ist breit, doch stets fließend. Was besonders überzeugt: Orchester und Dirigent musizieren ohne „Leerstelle“. Das gilt besonders für Daniel Barenboim mit seinem stets untrüglichen Gefühl für sich schließende Melodiebögen. Mit wie viel Phrasierungsinstinkt, wie zwingend entzieht sich da ein Nachsatz (des Hauptthemas) nach und nach dem begierig miterlebenden Ohr. Spannungsvoll Zeit lassend, so könnte man Barenboims Zugriff beschreiben. Klanglich ist das sensibel gerundet, nie nur-satt, ohne jeden Anflug von Bräsigkeit. Nur die pp-Einschübe der Streicher im Adagio drückt Barenboim zu sehr Richtung Andacht.
DSO und Louis Lortie fidel im Radiokonzert
Auch das Finale, das Bronfman und Barenboim mit gelöstem Nachdruck angehen, gelingt. Und dann wird auch noch das mitunter wie ein Fremdkörper wirkende Fugato nicht zu schwer ge-, sondern quasi en passant mitgenommen. Die Geigen haben Momente solch großer Binnendifferenzierung, dass sie mehrstimmig wirken, wo sie es gewiss nicht sind (Final-Coda). Diese >1000-Takte-Stücke sind online einfach verflucht schwer zu hören – und anzusehen sowieso. Als Ganzes war das doch sehr außerordentlich. Von der Ersten von Brahms vielleicht mehr nächste Woche.
Was einem auf YouTube so passieren kann. Meine Kommentarfunktion wurde einkassiert, nachdem ich mehrmals die Werbeunterbrechungen innerhalb von Sätzen kritisierte.
Das Deutsche Symphonie-Orchester präsentiert im Radiokonzert ein rein französisches Programm, das Yutaka Sado vital leitet. Faurés Pelléas et Mélisande hat man in letzter Zeit zu häufig gehört. Hut ab vor der blässlichen Tragik des kostbaren Suiten-Werks. Aber bei mir ist nach dem inzwischen 3. oder 4. Mal die Brause raus. Vom Hocker haut mich hingegen das Klavierkonzert Nr. 5 von Saint-Saëns. Auch, weil es im 2. Satz ägyptisches Kolorit in weit mehr als homöopathischen Mengen verspritzt. Aber das Werk prickelt fein wie Champagner, ist unheimlich klassisch und perfekt ausgewogen und überzeugt mit seiner klaren, sehr spezifischen Klanglichkeit. Piekfein das Finale, wo Solist Louis Lortie die Struktur federleicht, fast Ravel-zart züngeln lässt.
Fünf kristallklare Klavierkonzerte hat Saint-Saëns geschrieben. Gerade in Deutschland, wo man so konservativ ist, was Klavierkonzerte der zweiten Hälfte des Ottocento angeht (Brahms, Tschaikowsky, Grieg, Liszt, das war’s), täte mehr Saint-Saëns gut. Es folgt Iberts Divertissement, das vor frivolen, fröhlichen Farben nur so kichert. Ein spritziger Spaß ist das, aber auch ziemlich intelligent gemacht, bis hin zum Pfiff der Trillerpfeife. Den Bolero, der vermutlich schlechter als sein Ruf ist, spare ich mir. Das Konzert wird aus dem Haus des Rundfunks im Deutschlandfunk übertragen.
Neues aus Witten: Christensen, Gedizlioğlu, Bertelsmeier, Badalo, Pauset
Flugs zu den Wittener Tagen für neue Kammermusik. Nur zwei Klicks und ich bin mittendrin. Wie Ultraschall oder Eclat in Stuttgart passt sich auch das Wittener Festival erfolgreich an Corona an. Man sendet und streamt ein intensiv über drei Tage verteiltes Programm, das von den Ensembles an den verschiedensten Orten sorgfältig vorproduziert wurde. Der WDR3 überträgt vollständig im Radio, die Streams sind ein Jahr lang nachhörbar. Was man von ähnlichen Digital-Festivals kennt, zeigt sich auch hier: Nämlich dass sich kompakte Ensemblekonzerte zeitgenössischer Musik prima zum Streamen eignen. Ich höre Konzerte Nr. 5 und 6 vom Sonntag – was sich als perfekter Abschluss des Hör-Wochenendes erweist, nach Barenboim und DSO.
Konzert 5 bringt vier Uraufführungen. Der Beginn ist schon mal verheißungsvoll. Intouch des Dänen Christian Winther Christensen bedient erfolgreich die modernen Primärreize Minimalismus und Ironie. Die Strukturen sind leicht, das Werk ist lustig. Folgt Subsonically Yours der Kroatin Mirela Ivičević, die ihren Marktwert in der hart umkämpften Neue-Musik-Szene mit ihrem Image als Klangbrückenbauerin zwischen U und E geschickt steigert, Girlie-Look inklusive. Das Stück selbst mit seinem pseudo-kreativen Klein-Klein überzeugt mich heute weniger. Das Klangforum Wien unter Anheizer, Lenker und Denker Titus Engel interpretiert genau und leidenschaftlich. Der zweite Konzertteil kommt aus Stuttgart und wurde eingespielt vom Ensemble Ascolta. In Zeynep Gedizlioğlus Eksik – Entzug klingen die Tarzan-Schreie der Musiker eher nur-witzig als auch-triftig, aber die Musik drumherum ist klangsinnlich, hat Ziel und Spontaneität. Dies gilt eher nicht für das folgende Dark side of Telesto, das der Schweizer Michael Pelzel als 22-minütige Pink-Floyd-Hommage präsentiert. Eher langweilig, würde ich sagen. Lin Liao leitet.

Konzert Nr. 6 von den Wittener Tagen bestreitet das WDR Sinfonieorchester und wurde in Köln aufgenommen. Zwiespältig-zweiseitig präsentiert sich gleich zu Beginn Birke Bertelsmeiers Frischzellenkur (UA), der selten dämliche Titel dürfte Programm sein. Was zuerst nach üblem Potpourri aus sämtlichen Stilen der Musikgeschichte klingt, erhält allmählich Form und Komplexität und schließt sich zum ziemlich subtilen Hallraum der Tradition. Gut. Das sich anschließende Entropía (2017, deutsche EA, komponiert von der jungen Spanierin Inés Badalo) mag man für eine Studie subjektiv aufgeladenen Flirrens halten. Das leise Werk hält virtuos das Orchester in Atem. Ich vermisse noch die persönliche Handschrift. Aus Konzertkammer (2010, Neufassung 2020) von Brice Pauset werde ich nicht schlau. Ist das Stück gut oder nicht? Aber das glitzernd-funkelnde Werk bietet dem Hörer jede Sekunde ein Quäntchen echten Klangs. Auch weil Jean-Pierre Collot am Flügel die girlandenartig verwehenden Figurationen so bravurös in den Orchesterteppich webt. Und, Hand aufs Herz, hinter dem ziellos mäandernden Konzert vermutet man, je länger es dauert, irgendeinen ausgefuchsten, geheimen Plan. Das WDR leitet Michael Wendeberg.
Sämtliche Konzerte aus Witten sind im WDR3-Konzertplayer nachzuhören, Stichwort „Witten 2021“, höre hier.
Weitere Besprechungen/Kritik: „Besser geht es nicht“ (Andreas Göbel)
Ja, ja, ja. Beim Phillies Konzert hat einfach alles gepasst. Bronfman megagalaktisch – – so stelle ich mir Brahms vor. war sicherlich eines der besten Konzerte seit einiger Zeit
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Kann Claudio nur zustimmen
bewegendes Konzert, so viel Herzblut
seltene Stufe des Gelingens
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Barenboim and the BPO are just spine-tingling! Mr. Bronfman played with the utmost attention to the spirit of Brahms. GORGEOUS!
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F*** Youtube
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Die Links zu WDR3 funktionieren nicht
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Guter Artikel
https://www.sueddeutsche.de/medien/rbb-kultur-radio-1.5280436
Zitat Verena Keysers
„Denn das, was für viele unserer Hörerinnen und Hörer, für die bisher der Haupteinschaltgrund die exklusive klassische Musikauswahl gilt, das hat auf andere wiederum, wir haben ja auch eine Studie im Vorfeld gemacht, die uns das bestätigt hat, im wahrsten Sinne des Wortes auch exklusiv, nämlich ausschließend gewirkt. Das war dann manchmal doch ein Programm, das die Anmutung hatte, mindestens Grundkenntnisse in Sachen Köchelverzeichnis äh ja und gerne einmal bitte auch ,Jugend musiziert‘ als sozusagen Eingangserlaubnis in dieses Programm… und dem wollten wir auch ganz deutlich etwas entgegensetzen und haben uns deshalb entschieden, dass wir Titel aus Neoklassik, aus Filmmusik und seit heute eben auch von der Musikredaktion handverlesene Titel aus Pop und Jazz in diese Mischung bringen, und ganz, ganz wichtig, wirklich handverlesen, kuratierte Stücke… da geht es uns nicht um Verseichtung, um Mainstream, um Kommerzialisierung, sondern um eine einzigartige Mischung, die klassisch geprägt ist, aber Lust an der Weite hat und offen für Neues ist.“
Das sagt äh ja alles
Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.
Nein, äh ja, es geht nicht um Verseichtung, um Mainstream, um Kommerzialisierung.
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Naja, erst muß wieder das Mittelalter kommen,und dann sind wir ?
die Renaissance
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Grosse Premiere in Wien: Faust mit Florez inszeniert von Castorf. So hsb ich dieses Stück noch nie gesehn.
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Mehta sah wieder ganz gesund aus, aber so viele falsche Töne wie von Barenboim an diesem Abend hab ich selten gehört.
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Schade, daß man diese Seiten nun nicht mehr unter „blog oper berlin“ googlen kann. Es war doch zu schön.
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O sainte medaille
Avant de quitter ces lieux
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Aber erst, wenn man Étienne Dupuis gesehen hat, in Wien, wo er eine ähnliche Performance abgeliefert hat wie hier als Posa im Don Carlos –
erst dann kann man erschätzen, was das alles wert ist.
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die sind alle ganz frei und singen
bei Castorf, jedenfalls
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Schlatz, aus Kreizberg, wenn Du kanst, schau dir den Faust aus Wien an. Da ist so viel verborgen…
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in eine andre Welt entrückt
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Die Berliner spielten einmal eine Sinfonie eines deutschen oder österreichischen oder böhmischen Brahms-Zeitgenossen. Ich weiß leider nicht mehr welchen und finde nichts in der Digital Concert Hall. Weiß jemand weiter?
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Das DSO hat vor Urzeiten mal was von Robert Volkmann gemacht
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Vermutlich meint Joachim das Konzert mit der Symphonie von Hans Rott.
Ich habe die Besprechung von Christiane Peitz gefunden https://www.tagesspiegel.de/kultur/im-stau/1055822.html
Demnach fand das Konzert 2007 statt, ein halbes Jahr vor dem Start der DCH
Es ist schade, dass dieses Repertoire in Deutschland überhaupt nicht mehr gepflegt wird. Dort sind wahre Schätze zu finden. Mi fallen spontan Raff, Volkmann, Fuchs, Draeseke, Bruch ein. Das Cellokonzert von Volkmann wurde vor einigen Jahren von der Neubrandenburger Philharmonie gegeben. Es ist bezeichnend, dass die Pflege dieses Repertoires ganz überwiegend von kleinen Orchestern übernommen wird. Nürnberger Symphoniker, Nordwestdeutsche Kammerphilharmonie etc Auch das Brandenburger Staatsorchester tut sich in diesem Bereich hervor.
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Cool, gracias
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Nicht schlecht
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Auch das hier: Robert Volkmann Sinfonie 2 Nordwestdeutsche Philharmonie
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Auch sehr interessant
Was nicht ganz für den Pianisten gilt
Aber dennoch
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Bin relativ angetan von Volkmann und Fuchs. Bei Volkmanns 1. Sinfonie hört man Schumann und sogar Beethoven, rührend. Ansonsten Herbheit bei der Instrumentation, so was wie Kahlheit der musikalischen Gedanken. Hanslick hielt wohl große Stücke auf ihn. Danke für die Tipps. Fand bei erstem Anhören die „Klassizisten“ und Brahms-Leute Volkmann und Fuchs attraktiver als die tendenziell Neudeutschen Raff und Draeseke. Andererseits ist man so was wie die Sinfonien von Raff überhaupt nicht mehr gewohnt.
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Was kommen musste, kam: Thielemann verlässt Dresden 2024.
Ist jammerschade denn Staatskapelle und CT waren schon was Feines
CT kommt dann eher nicht an die Lindenoper weil Barnboims Vertrag bis 27 läuft
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Thielemann kann überall freischaffend als Gast arbeiten
, bei den Wienern und vielen andren Top-Orchestern. Barenboim wird nicht jünger. Ich würde mir Thielemann an der Staatskapelle wünschen, als Chef fürs deutsche Repertoire. Wir brauchen dann noch jemanden, der die italienischen Opern dirigieren kann. Barenboim kann das alles, aber wo ist ein Ersatz, der mit Thielemann gut zusammenspielt und das Italienische gut kann ?
Roberto Rizzi Brignoli vielleicht. Der kann Verdi wie kaum ein andrer mit Schmiß und Zack spielen. Ob er sich mit dem Thielemann verstehen würde ?
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Würde natürlich liebend gerne Thielemann für Wagner (aber keinen Holländer) und Strauss nehmen. Selbst mal den ein oder anderen Puccini. Mit Barenboim gab es ja auch „deutschen“ Italiener, was beileibe nicht das schlechteste war. Thielemann würde sicherlich zur Staatskapelle passen. Insgesamt halte ich seine Berufung aber doch für unwahrscheinlich, da er Unter den Linden meiner Kenntnis nach nie was gemacht hat und die Bereitschaft des Kultursenats, sich auf einen unbequemen, zudem konservativen Typen wie Thielemann einzulassen, verhältnismäßig gering sein dürfte. Mit Barenboim scheint es darüberhinaus, anders wie mit Rattle bspw, kaum persönliche Berührungspunkte zu geben.
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Die kennen sich. Thielemann war Assistent in Bayreuth und konnte die Meistersinger auswendig dirigieren, als Barenboim in der Pause war. Die Staatskappelle hat ähnlichen Klang wie die Dresdner : warm und etwas dunkel. Ich denke, hier ist schon vieles ausgemacht.
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Ja und jetzt : wer könnte das italienische Repertoire ? Bitte jetzt nicht Pappano…
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Wenn man Repertoire zum Maßstab machen wollte : John Fiore ! Der ist zu gut für die Staatsoper, weil er schlicht aus dem Gefühl heraus ein Werk dirigiert.
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Die Sänger können ihm folgen, es funktioniert,
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nicht das was ich mir wünsche :
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das wär‘ zu sehr Berlinerisch
perfekt,eben, für 2 Weltkriege
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Es hat auch niemand den Rosenkavalier für die vom andren Ufer geschrieben
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eher so :
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Eugen Jochum
der hat auch eine wunderbare Entführung dirigiert, aus der ich hier, glaube ich, auch schon zitiert habe
falls nicht :
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sehn wir unser Leiden End
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