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Die Philharmoniker spielen Mein Vaterland, diese Musik-Inkunabel, komponiert aus Mythos, Natur und tschechischer Geschichte.

Daniel Barenboim ist am besten, wo es breit fließt, Stimmungshöhepunkte angepeilt werden. Das Tutti: eine rauschende Pracht, von Barenboim nicht gefordert-fördert, sondern fintenreich hervorgelockt. Das Blech strahlt in dunkler Patina. Die Streicher: präzisionsverliebt, aber ohne jenen buttrigen Klang, der das Naturgefühl aus der Partitur quetscht wie aus einer Tube Senf. Barenboim liebt diese uneingeschränkte Wärme des Melos.

Erwartbar brillant die solistischen Auftritte: die doloroso-Klarinette in Šárka und Flöte und Klarinette als die zwei Moldauquellen (M. Dufour?, W. Fuchs), die sich in ihrer lieblichen Helle als klarer erweisen als tschechischer Schnaps.

Der Höhepunkt vielleicht Z českých luhů a hájů (Von tschechischem Wiesen und Wäldern). Das Fugato tönt als meisterhaft ausgedünnter Streicherklang. Man kennt Má vlast ja doch zu wenig. Seltsam die Posaunen- und Hörner-Stelle im Nymphenreigen, die 15 Jahre später in Bruckners Achter wiederkehrt. Packend der Beginn von Šárka aus Walküre-Gewitter und Schneidigkeit des Don Juan.

Die Nutzlosigkeit der Garderoben

Es ist ein ungewohnter Abend. Nie, wirklich nie hat man die Gelegenheit, sechs sinfonische Dichtungen an einem Abend zu hören, außer bei dem Tschechen Bedřich Smetana.

Der düsteren Tragik von Mein Vaterland entkommt kein Zuhörer. Für ihn wirken die hämmernden Motive aus Tábor und Blaník wie eine Blutgrätsche aus der Tiefe der tschechischen Geschichte. Hier ist Barenboim zu breit. Ich hör mich dumm und dusselig an dem Hussitenchoral. Straffen (mehr Tempo, konzentrierte Wucht) wäre besser gewesen.

Bleibt zu hoffen, dass der Senat angesichts steigender Zahlen nicht die Zuschauerzahlen kappt. Was die Berliner Konzerthäuser und Opern aufbieten, um dem Virus ein Schnippchen zu schlagen, ist kaum zu toppen. Eine effektivere Virus-Prophylaxe erlebt man nirgendwo sonst im öffentlichen Bereich. Stattdessen sollte der Senat die kritischen Bereiche stärker kontrollieren. Konzertsaal und Opernhaus sind sicher.

Ab 1. November ist in der Philharmonie übrigens die Maske auch während des gesamten Konzerts vorgeschrieben.

Weitere Besprechungen: „Barenboim ohne Patriotismus“ (Clemens Haustein, Anmeldung nötig), „Lange nachklingen“ (Clemens Goldberg)