Christian Gerhaher ist ein gern und häufig gesehener Gast in der Berliner Philharmonie. Im Kammermusiksaal ist er nun mit einem Programm abseits ausgetretener Programmpfade zu hören. Frisch Uraufgeführtes von Rihm, weniger Bekanntes von Schubert (fünf Rückertlieder, zwei Silbertlieder), von Alban Berg die frühen Vier Gesänge des Opus 2. Nur die Auswahl aus den Mörikeliedern von Hugo Wolf kann auf breitere Bekanntheit hoffen. Gerhaher mutet seinem Publikum dieselbe Konzentrationsanstrengung zu, die er sich selbst stets aufs Neue abfordert.
Christian Gerhaher

Tasso-Gedanken von Wolfgang Rihm hat Gerhaher vor gut zwei Wochen uraufgeführt. 79 Zeilen Dichter- und Denker-Monolog, komponiert vom repräsentativsten deutschen Komponisten, der Text vom größten deutschen Dichter, uraufgeführt in Weimar vom derzeit repräsentativsten deutschen Liedsänger –  konzentrierter, bewusster kann man neunzehneinhalb Minuten Musik kaum mit deutscher Kultur füllen. Gerhaher setzt solcher Zumutung die Genauigkeit seiner Deklamation entgegen, füllt geschmeidig das gesamte dynamische Spektrum aus und wechselt gekonnt zwischen Parlando-Nähe und pathetischem Ausbruch. Bezeichnend für Rihms derzeitigem Kompositionsstandpunkt ist die Klavierbegleitung, die gut und gerne von 1910 stammen könnte.

Harzreise im Winter, erneut von Rihm, erneut wie die Tasso-Gedanken beinahe eine monologische Szene, leidet vielleicht wie diese an der extensiven Text-Grundlage, die allzu intensiven Ausdruck verhindert.

Mit leicht erhöhter Pulsfrequenz dann die beiden Schubertlieder auf naturhaft religiöse Gedichte von J. P. Silbert. Gerhaher bleibt expressiv wohltuend zurückhaltend, findet zu behutsamer Lautbildung, siedelt die zwei selten zu hörenden Lieder in natürlicher Sprachnähe an, ohne zu leugnen, dass er sprachliche Kunstwerke interpretiert. Bei Gerhaher ist Singen zugleich Mitteilung, ja, Reden und Sprechen. Das ist große Liedkunst.

Der Bariton Gerhaher, wie er frisch graumeliert auf dem Podium des Kammermusiksaals steht, hat etwas von einem schüchternen Hochseekapitän, der zugleich Professor einer unbekannten Sprache sein könnte oder eine Botaniker-Berühmtheit, wovon sein zerzaustes Haar und der stets wie aus der Ferne kommende Blick zeugen.

Die kurzen Vier Gesänge op. 2 von Alban Berg bestechen durch das nuancenreiche Changieren zwischen gelockertem Redegestus und inwendigem Singen. So ist Gerhaher zugleich Deuter und Befrager. Warm die Lüfte nimmt in den Worten des Mädchens Ton und Ausdruck des Wozzeck vorweg.

Wunderbar auch die fünf Mörikelieder von Hugo Wolf, die den Bogen von den leidenschaftlichen Liedern Begegnung und Lied eines Verliebten zu den kontemplativen Stücken Auf eine Christblume II und Schlafendes Jesuskind schlagen. Besonders letztere sind eine Lehrstunde, wie subtile Registerunterschiede für Interpretation zu nutzen sind, wie sich gelockertes Legato mit genauester Deklamation verbindet und so ganz nebenbei vokaler Überdifferenzierung entgegensteuert wird, wie ein Sänger, indem er von vibratolosem zu einem Singen mit Vibrato wechselt, der Wortintelligenz Tür und Tor öffnet. Ähnlich gewissenhaft gestaltet der Sänger dann Grenzen der Menschheit (nach Goethe), wo Gerhaher die Intensität Hugo Wolfs durch vibratolose Vokaldehnungen ins Hypnotische verstärkt.

In den im Biedermeierlichen verankerten Rückertliedern zu Beginn tritt Spontanes zugunsten einer schematischer aufgefassten Innerlichkeit zurück. Untergründiges, Doppelbödiges äußert sich bei diesen Liedern verborgener, und so zügelt Gerhaher bei den fünf Liedern seinen Interpretationswillen, nähert sich ihnen mit Objektivität.

Gerold Huber ist ein sachlicher, sorgfältiger, markant akzentuierender und vor allem unfehlbarer Begleiter. In den Zwischen- und Nachspielen hört man ihn lebhaft atmen.

Die Zugaben, Über die Grenzen des All von Berg und Der Einsame von Schubert, nehmen Bezug auf das soeben Gehörte und erweitern es variierend.

Foto: Gregor Hohenberg


Eine weitere Kritik: die lesenswerte Besprechung von Hundert11.