Spät, aber nicht zu spät veröffentliche ich die Kommentare zum Sonntagskonzert der Berliner Philharmoniker.
Den verstorbenen Claudio Abbado mehr vertretend als ersetzend, dirigiert Simon Rattle Bruckners 7. zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres.
Mit den ersten Brucknersätzen Rattles war ich selten zufrieden. Mein Spontangedanke noch vor dem 2. Thema: lieber Kopfsätze unter Skrowaczewski, unter Janowskis mürrischer Effizienz, unter Barenboim hören.
In der 7. Sinfonie sagt Anton Bruckner der Gedrängtheit mancher seiner Kopfsatzthemen ab. Stattdessen ist das Kopfthema Seifenoper auf höchstem Niveau, halb Reinheit vom Lohengrin, halb Effekt vom Schwertmotiv.
Was macht Rattle? Das Hauptthema ist heute Abend hörbar durch weiche Pausen geteilt, will sagen: Hier geht es um softe Strukturen, nie und nimmer um Brutalo-Architektur. Typisch ist eine weiche Rundung der Ränder. Das vorherrschende Gefühl: wie auf Eiern gehen. Ich bin voll skeptischen Interesses.
Es gibt viel Freiraum für die Soloflöte in der beginnenden Durchführung. Dann folgen die doch auch herrlichen Soft-Aufwallungen der Streicher. Mensch, dieser Freiraum für Stimmen und Gegenstimmen. Mit jedem Einsetzen klingt das Hauptthema um einen Grad antiautoritärer („Darf ich eintreten?“).
Bruckners E-Dur-Allegro unter Rattle: eine menschliche Mammutstruktur voll hinterhältiger Beschwichtigung.
Ich mache es mir nicht leicht mit Rattles Brucknerkopfsätzen.
Es folgt das wollige cis-Moll-Adagio mit wunderschön saftigen Blechstellen (Wagner! Abbado!!) und emphatisch zerfasernden Streicherfigurationen.
Das Scherzo ist multiperspektivisch gelockert und um den punktierten Rhythmus angeordnet, das Trio um viel Raum ausgebreitet.
Und sonst? Im Finale läuft mir vielerorts eine improvisatorische Chuzpe über den Weg, die Thielemanns Architektenpathos Architektenpathos sein lässt. Man staunt, wie Bruckners kantige Kontrapunkte in der Rattleschen Sonne wie Butter dahinschmelzen.
Frank Peter Zimmermann spielt Mozarts drittes der Violinkonzerte klar, genau und beherrscht.
Das leere Dirigentenpodium bei Schuberts Rosamunde berührte. Die Auszüge aus der Rosamunde klangen unter Abbado, ich sage es diplomatisch, besser. Aber DAS war auch das Konzert, in dem die Berliner unter Abbado Mahlerlieder – unvergessen das Rheinlegendchen -, eben die Rosamunde und La Mer spielten, das beste Konzert, das ich je mit Abbado hörte.
Konzertmeister ist Kashimoto.
Ich hätte gerne Bruckners frische Zweite oder Dritte von Rattle gehört.
Och je, Andreas Blau hört auf.
Ich hatte bei Schuberts Rosamunde-Musik einen ganz anderen Eindruck. Die Musiker spielten die bezaubernde Musik mit viel Nachdruck und Gefühl. Es war ein sehr egreifender Moment und eine große Geste des Orchesters und Simon Rattles. Bei Bruckner würde ich Ihnen eher zustimmen. Hier ist für mich Thielemann das Maß aller Dinge. Die Bruckner-Interpretationen von Herrn Barenboim kennzeichnen sich durch ein Mischmasch von inspierenden Passagen mit schier ungenießbaren aus.
Mit vielen Grüßen
A.H.
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Vielen Dank für Ihren Kommentar – Sie gestatten, dass ich Ihrer Einschätzung der Brucknerinterpretation und insbesondere dem Wort vom Mischmasch widerspreche. Es ist doch so, dass man bei Bruckner wie auch bei Mahler aufgrund der schieren Ausmaße des Materials, und sei man ein noch so bescheidener Zuhörer, nie wunschlos glücklich ist. Letzteres passiert einem, wenn Pollini eine Zugabe spielt. Aber das meine ich nicht. Eine Zeitlang fand ich die Bruckner-Adagios von Barenboim unübertrefflich. Irgendwann fand ich dann die Ecksätze unübertrefflich und die Adagios mäßig. Bei Thielemann finde ich die langsamen Brucknersätze unübertrefflich geistlos. Bei Rattle habe ich immense Schwierigkeiten mit den Kopfsätzen. Janowski, ein prima Brucknerdirigent, ist fast immer von Trockenheit bedroht. Maazel finde ich über lange Strecken langweilig, außer in den Passagen, die ich nachpfeifen kann. Bei Nagano fehlt in den langsamen Sätzen die elastische Spannung.
Es gibt keinen Dirigenten, der alles gleich gut kann.
Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich das Adagietto aus Rattles Mahlerzyklus zum Gähnen fand. Ich weiß gar nicht mehr, mit was ich mir die Zeit bis zum Finale vertrieben habe. Aber selbstverständlich war die Fünfte von Rattle dennoch großartig.
Insofern ist der Eindruck von Mischmasch fast ein Qualitätskriterium für eine gelungene Interpretation.
Wahrscheinlich verhält es sich bei Mozart genauso, es sei denn ich habe entweder in der Pause einen Piccolo zuviel getrunken oder während der Aufführung einen Satz durchgeschlafen – manchmal trifft sogar beides zu.
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Neues Design?
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Hello. I appreciate your comment about the Lohengrin element in the ‚Hauptthema‘. I will share with you some of my impressions. I mean it was a fantastic deliverance of the orchestra. I mean this was a shiny, bright and even thoughtful Bruckner 7th, it was everything in there. It couldn’t have been done better.
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Mir sind die Tränen gekommen. Sir Simon Rattle verzichtet auf Frack und wählt den bescheideneren Kittel. Selbst in der durchdigitalisieretn Digital Concert Hall ist nachvollziehbar, dass die Musiker bei 7. Sinfonie von Anton Bruckner bewusst einen meditativen Zugang wählen. Rattle stellt sich folgerichtig zurück und lässt das Orchester „agieren“. Das ging mir sehr nahe.
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Hallo Herr Schlatz!
Ich höre gerade das Konzert in der Digital Concert Hall (Bruckner 7.) und freue mich, auf Ihrem Blog Ihre Einschätzung lesen zu können. Ich finde auch im ersten Satz einen großen Zug. Sir Simon Rattle versteht es, der 7. Sinfonie eine lebhafte Wärme und einen weiten Atem zu geben, die ganz außerordentlich sind. Wunderbar ist der Beginn der Durchführung, wo die Philharmoniker mit einer Ruhe und Vertiefung musizieren, wie ich es noch nicht gehört habe. Wunderbar dann auch, wie Rattle die Temporückungen im weiteren Verlauf der Durchführung klar macht. Auch das Gefühl für Übergänge ist bei den Musikern enorm. Die Streicher haben die richtige „Berliner“ Textur. Und ach ja, im Adagio grenzt es fast ein Wunder, wie die Berliner Philharmoniker zu phrasieren verstehen.
Selbst in der Digital Concert Hall ist die Stelle, die Wagners und bei diesem Konzert Abbados Tod bezeichnet, unendlich berührend. Genial der Moment, wo die Hörner sich zu den Wagnertuben gesellen.
Irre auch, dass man in der Digital Concert Hall dem Solohornisten ins Blatt schauen und bei höchster Auflösung Note für Note mitlesen kann.
Viele Grüße
H.F.
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