Gibt es ein besseres Programm, um kurz vor den festlichen Tagen den Ball flach zu halten? Nö.
Pēteris Vasks Cantabile für Streicher (1979) ist ein sympathisches Paradox aus Simplizität und Ergriffenheit. Vasks ist ein Mann in bestem Alter und schönem Wollpullover. Vasks entert das Podium mit einem Sprung.

Es folgt die Uraufführung von Hans Abrahamsens „Let me tell you“ nach einer Shakespeare-Paraphrase von Paul Griffiths. Das Stück pflegt eine Vorliebe für höchste Töne und Mäßigung in der Lautstärke. Der Schlagwerkgebrauch ist esoterisch angehaucht: Papierwischer auf Großer Trommel. Die Meisterleistung der Hörner bestand mehrmals darin, unhörbar zu sein. Barbara Hannigan, ein gern gesehener Gast, singt. Ihr Sopran reicht in gletscherblaue Höhen. Die schlanke Stimme – bergseeklares Timbre, feine Valeurs, artifizielles Chroma – klingt wie ein Instrument. Der Eindruck eines kühlen Stimmklangs wird durch die interpretatorische Artistik Hannigans ergänzt und modifiziert. Hannigans Vibrato öffnet Abrahamsens transparente Texturen zusätzlich hin zu entlegenen Ausdrucksbereichen. Die dornenumhegte Prosa der Textvorlage findet ihr Äquivalent in Intervallsprüngen und dem verrätselten, wie erfrorenen Klangbild. Die Philharmoniker spielen angemessen.

Darüber, wie Andris Nelsons‚ Brahms zu beurteilen ist, raufe ich mir seit einer halben Stunde die Haare. Fest steht, dass es zum Schluss immer besser wurde.
1. Satz. Ziemlich robuster, offener Klang. Klingt wie Bed-Head-Frisur, etwas hektisch. Die Dolce-Passage (erst p, dann pp) vor dem Einsetzen der Reprise, in der sich Streicher und Bläser die Bälle zuwerfen, klingt so was von nicht-dolce, dass ich nicht anders kann als denken, das sei was ganz Besonderes. Der Eintritt der Reprise geschieht besonders unauffällig, wie von echtem Berliner Winternebel verhüllt. „Alle Achtung“, denke ich zuerst beim Seitenthema der Reprise, Hörner, Celli. Getragen, schwerfällig, aber mit Zug. 2. Satz. In den gesanglichen Partien ist eine sehr gute Ordnung drin. Bin zum ersten Mal vollauf zufrieden. 3. Satz. Hat noch mehr Zug. Nelsons bringt einen Hang zum theatralischen Szene-Machen in die letzten Takten rein. 4. Satz. Die 13. Variation flötet Andreas Blau in vollem Bewusstsein eigener Klasse runter. Dafür wird er beim Schlussapplaus von Albrecht Mayer abgeklappst. Danach blasen die Holzbläser Nr. 14 subtil. Bei Variation Nr. 21 schwenkt Nelsons auf eine Wild-West-Manier um, und inzwischen ist es ziemlich gut. Wieland Welzel zeigt konsequente Härte (Pauke).
Was mir nicht gefällt: eine Unempfindlichkeit gegenüber Abläufen, etwa bei Änderungen der Instrumentation oder der Atmosphäre und Dichte. Das arbeitet Nelsons nicht heraus.
Applaus. Stabrawa wird von Nelsons abgeklappst.
Spielt das philharmonische Orchester mit 11 zweiten Geigen und 9 Bratschen oder mit 12 zweiten Geigen und 8 Bratschen? Ich verzähle mich ständig. Aha, mit 11 zweiten und 9 Bratschen. Wie letzte Woche bei Harding, so auch heute mit Nelsons Furtwängler-Aufstellung: Erste Geigen, Celli, Bratschen, zweite Geigen. Bässe links hinten. Applaus. Mayer tätschelt Blau. Franz Schindlbeck zeigt seine Triangel (bravourös im 3. Satz).
Fazit: laut, aber sehr gut.
Weiß jemand, wo Fritzi Haberlandt Theater spielt, nachdem das Maxim Gorki seine Künstler rausgeworfen hat?
Klasse das struppige Finale – dem Gefühl nach doppelt so schnell wie Brahms 4 von Sir Simon. Hatte den Eindruck, dass sich die Phillies mit dem Brahms von Nelsons etwas schwer tun.
Vasks Stück war wertvoll – als Kalter-Krieg-Schmachtfetzen, als lettisches Herzblut.
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Vieles beim Brahms kam mir abgerissen und unnötig heftig vor. Ich habe mir daraufhin die Vierte, dirgiert von Rattle, nochmals angehört. Unter Rattle spielt das Orchester inspirierter und erfüllter, auch genauer. Ähnlich sind auch die Erinnerungen an das Live-Konzert Herbst 2008. Demgegenüber standen im gestrigen Konzert hörbar um Leidenschaft bemühte Geigen, aber das konnte auch nach Verbissenheit klingen.
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Jo. Rattles Nr. 4 aus dem Brahms-Zyklus war eindeutig Triple A. Insbesondere das perfide Allegro giocoso und das glorios verknäulte Finale.
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Heul. Und wir müssen noch bis Februar warten, bis SSR wieder in Berlin aufläuft.
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Rattle macht Katja Kabanowa, 25.1., Staatsoper. Mit Westbroek.
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Wir haben das Konzert sehr genossen. Die Musiker wurden regelrecht mitgerissen. Ein überwältigendes Erlebnis, das die Krönung unseres Besuchs in Berlin war. Bravo!
M. Gutbrod
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Habe ich auch so gehört, dass Nelsons vorm Finale einen Gang höher schaltet. Endlich mal einer, der sich traut, bei Brahms auf Wischiwaschi-Sound zu verzichten. Das war eindeutig Weltklasse. Andreas Blau ist eine Bank. Unspektakulär und bombensicher. Ist immer wieder erstaunlich, was der über Jahre hinweg und auf welchem Niveau abrufen kann.
Abrahamsen war doch großartig! B. Hannigan!!
Und Vasks erfrischend. N’est-ce pas?
Grüße
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@Abrahamsen
Nee, war zu lang. Der letzte Teil war kitschige Neoromantik, von wegen Fußtritte im Schnee etc. Dass es zu viel war, merkte man auch daran, dass die Konzentration beim Publikum weg war (hüstel, räusper, schneuz), obwohl das Rascheln auf der großen Trommel optimal und einfühlsam von Raphael Haeger ausgeführt wurde.
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@ Publikumskonzentration. War am Freitag (20. Dez.) anders. Im ersten Teil der Uraufführung wars noch unruhig, danach gabs weder Huster noch Hustenbonbonauspackraschler. Hatte das Gefühl, so eine Publikumsspannung bei einer BPhil-Uraufführung schon lange nicht mehr erlebt zu haben.
@ Brahms. Stimme Ihrer differenzierten Kritik zu; empfand den zweiten Satz als dramaturgischen Höhepunkt; vierter Satz mit Energie, leider stolperten die Philharmoniker ab dem Piu Allegro in den Schluss – die Hemiolen in den letzten Takten waren nicht wirklich präzise (mir persönlich wars auch zu schnell, kann aber daran gelegen haben, dass es nicht 100 prozentig zusammen war) und hinterließen einen etwas verwaschenen Eindruck.
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2. Geigen rechts ist keine Furtwängleraufstellung, sondern die sog. alte Deutsche. Furtwängleraufstellung ist mit den Bratschen rechts.
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