Gibt es ein besseres Programm, um kurz vor den festlichen Tagen den Ball flach zu halten? Nö.

Pēteris Vasks Cantabile für Streicher (1979) ist ein sympathisches Paradox aus Simplizität und Ergriffenheit. Vasks ist ein Mann in bestem Alter und schönem Wollpullover. Vasks entert das Podium mit einem Sprung.

Barbara Hannigan Abrahamsen Let me tell you
Let me tell you: Barbara Hannigan singt mit den Berliner Philharmonikern Abrahamsen / Foto: Raphael Brand / barbarahannigan.com

Es folgt die Uraufführung von Hans Abrahamsens „Let me tell you“ nach einer Shakespeare-Paraphrase von Paul Griffiths. Das Stück pflegt eine Vorliebe für höchste Töne und Mäßigung in der Lautstärke. Der Schlagwerkgebrauch ist esoterisch angehaucht: Papierwischer auf Großer Trommel. Die Meisterleistung der Hörner bestand mehrmals darin, unhörbar zu sein. Barbara Hannigan, ein gern gesehener Gast, singt. Ihr Sopran reicht in gletscherblaue Höhen. Die schlanke Stimme – bergseeklares Timbre, feine Valeurs, artifizielles Chroma – klingt wie ein Instrument. Der Eindruck eines kühlen Stimmklangs wird durch die interpretatorische Artistik Hannigans ergänzt und modifiziert. Hannigans Vibrato öffnet Abrahamsens transparente Texturen zusätzlich hin zu entlegenen Ausdrucksbereichen. Die dornenumhegte Prosa der Textvorlage findet ihr Äquivalent in Intervallsprüngen und dem verrätselten, wie erfrorenen Klangbild. Die Philharmoniker spielen angemessen.

Barbara Hannigan Let me tell you
Hans Abrahamsen, Barbara Hannigan, Andris Nelson, Paul Griffiths / Foto: barbarahannigan.com

Darüber, wie Andris Nelsons‚ Brahms zu beurteilen ist, raufe ich mir seit einer halben Stunde die Haare. Fest steht, dass es zum Schluss immer besser wurde.

1. Satz. Ziemlich robuster, offener Klang. Klingt wie Bed-Head-Frisur, etwas hektisch. Die Dolce-Passage (erst p, dann pp) vor dem Einsetzen der Reprise, in der sich Streicher und Bläser die Bälle zuwerfen, klingt so was von nicht-dolce, dass ich nicht anders kann als denken, das sei was ganz Besonderes. Der Eintritt der Reprise geschieht besonders unauffällig, wie von echtem Berliner Winternebel verhüllt. „Alle Achtung“, denke ich zuerst beim Seitenthema der Reprise, Hörner, Celli. Getragen, schwerfällig, aber mit Zug. 2. Satz. In den gesanglichen Partien ist eine sehr gute Ordnung drin. Bin zum ersten Mal vollauf zufrieden. 3. Satz. Hat noch mehr Zug. Nelsons bringt einen Hang zum theatralischen Szene-Machen in die letzten Takten rein. 4. Satz. Die 13. Variation flötet Andreas Blau in vollem Bewusstsein eigener Klasse runter. Dafür wird er beim Schlussapplaus von Albrecht Mayer abgeklappst. Danach blasen die Holzbläser Nr. 14 subtil. Bei Variation Nr. 21 schwenkt Nelsons auf eine Wild-West-Manier um, und inzwischen ist es ziemlich gut. Wieland Welzel zeigt konsequente Härte (Pauke).

Was mir nicht gefällt: eine Unempfindlichkeit gegenüber Abläufen, etwa bei Änderungen der Instrumentation oder der Atmosphäre und Dichte. Das arbeitet Nelsons nicht heraus.

Applaus. Stabrawa wird von Nelsons abgeklappst.

Spielt das philharmonische Orchester mit 11 zweiten Geigen und 9 Bratschen oder mit 12 zweiten Geigen und 8 Bratschen? Ich verzähle mich ständig. Aha, mit 11 zweiten und 9 Bratschen. Wie letzte Woche bei Harding, so auch heute mit Nelsons Furtwängler-Aufstellung: Erste Geigen, Celli, Bratschen, zweite Geigen. Bässe links hinten. Applaus. Mayer tätschelt Blau. Franz Schindlbeck zeigt seine Triangel (bravourös im 3. Satz).

Fazit: laut, aber sehr gut.

Weiß jemand, wo Fritzi Haberlandt Theater spielt, nachdem das Maxim Gorki seine Künstler rausgeworfen hat?