
An dem Konzert der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle gäbe es nichts auszusetzen, wenn nicht der erste Satz der 6. Sinfonie gewesen wäre. Das Allegro war laut wie Horst Seehofer und stämmig wie Sigmar Gabriel – seufz. Wie selten stören mich die bei Rattle ja gerne prominenten Bässe. Der Rest war Augen zu und Genussseufzen.
Der Strom purer Musik, die Philharmoniker, die einen selbstverständlichen Ton ohne jede Überheblichkeit finden, die ungeheure Besessenheit der Musiker für den Augenblick, die helle und doch wilde Entschlossenheit Rattles schaffen eine wunderbare, vorbildliche Interpretation. Im Gewitter soll man Weber (Wolfsschlucht) und Wagner (Walküre, Aktvorspiele) vorausahnen. Die Bratschen und 2. Geigen spielen wiederholt heftig und schön – mit ungehörtem Klang. Ein Fest der schier grenzenlosen musikalischen Fantasie der beteiligten Bläsersolisten ist die mit gänzlich unorthodoxer Plastizität ausgestattete Kuckucksepisode des 2. Satzes. Der 2. Satz zwölfeinhalb Minuten. Der 1. etwas über 12 Minuten. Der 3. ist barsch und heftig.
Davor das haarsträubend gute Arbre des Songes (oder Ordre des Singes?) von Dutilleux, das man auch einfach Violinkonzert hätte nennen können. Mit Leonidas Kavakos werde ich nur warm, nicht heiß. Sein Spiel hat Schönheit. Es fehlt Biss, fehlt Deutungsgier. Ich höre Bescheidenheitsallüre. Ja, das gibts. Gegen die hitzige, schimmernde, flüssige, herrliche Präzision des Orchesters ist… also Kavakos-Philharmoniker verhält sich wie Hertha – Barca. Oder Magath – Messi. Ein einziges Mal hat Kavakos mich, nämlich als er die langsam, anfangs in Sekundschritten absteigende Linie 2 Minuten vor Ende sahnig weich verströmend, in fast zaghafter Süße, spielt.
Lutoslawskis Doppelkonzert für Oboe und Harfe ist eine kapriziöse Angelegenheit. Ich mochte die Pizzicatostelle im ersten Teil, die sich anhörte, wie wenn eine fette, flauschige Katze aus dem Fenster des 2. Stocks fliegt. Jonathan Kelly blies den delikat-akrobatischen Oboenpart als kontrolliertes Oboen-Yoga, wenn auch nicht mit allerfeinstem Ton, trug rotes Hemd, schwarzen Anzug. Marie-Pierre Langlamet souverän an der Harfe. Anne-Sophie Mutter muss beim Anblick von Madame Langlamets Unter- und Oberarmmuskulatur neidisch werden.
Streicher bei Beethoven: 10 x 10 x 10 x 8 x 6. Thielemann spielte mit den Wienern mit 2 x 15 Geigen. Nur 1 Konzertmeister: Kashimoto. Solène Kerrmarec und Stephan Koncz 1. Reihe bei den Celli.
Kritik/Review Berliner Philharmoniker Rattle: ein weiteres erstens lehrreiches und zweitens sehr gutes Konzert mit der Kombi Dutilleux-Lutosławski. Dazu spielen die Phillies einen Schmankerl-Beethoven.
Ich war gestern im Konzert. Sie ebenfalls, vermute ich. Ich muss widersprechen Kavakos hat mir ausgesprochen gut gefallen. Er begann sehr lyrisch und steigerte sich zu einem kraftvollen, warm leuchtenden Ton. Ich habe Kavakos schon mehrere Male in der Philharmonie gehört und erlebte bislang jedes Mal eine tiefe Befriedigung. Ich mag keine Geiger, die meinen, wenn sie nur möglichst markant und breit spielen, herrsche Friede, Freude, Eierkuchen im Publikum. Die Interpretation durch Herrn Kavakos fand ich schlicht und ergreifend authentisch.
Grüße
LikeLike
1. Satz Sechste großartig und nicht zu laut. Wo saßen Sie? Merkel mit Ehemann in A.
LikeLike
Ja, Merkel komplett in Schwarz aufmerksam vorgebeugt bei Dutilleux und Beethoven. Ihr Mann etwas fläzend und im Programmheft blätternd.
@Sechste großartig:
Die Streicher hörten sich im einleitenden Allegro ma non troppo ungewohnt kompakt-lustlos, fast bullig an.
LikeLike
Gehe meist d’accord mit Ihrer Beurteilung, finde allerdings ebenfalls, dass Kavakos hierbei viel zu schlecht wegkommt. Meiner Meinung nach ist er ein Ausnahmegeiger ohne Starallüren. Zu Lutoslawski bekomme ich keinen Draht. Das zerfasert mir zu sehr.
Befremdlich ist meiner Meinung nach, wie schnell die Orchestermusiker während des Schlussapplauses abtreten.
LikeLike
Danke für Ihren Kommentar.
@Lutoslawski
Ich tendierte bislang zu Lutoslawski und war bspw. enttäuscht von Dutilleux‘ Métaboles und fand Lutoslawskis Klavierkonzert und Cellokonzert substantieller als die jeweiligen Sachen von D. Gestern hatte Dutilleux die Nase vorn.
@Kavakos
Habe ihn zum 3. Mal mit dem Orchester gehört. Vibrato und Ton fehlt für meine Ohren Entschiedenheit.
@abtreten
Oft gesehen, nie von anderen erreicht: Der extrem flotte Abgang ist extrem cool. Gegenbeispiel wäre hier die brutalst sitzfreudige Staatskapelle.
LikeLike
>> Der 2. Satz zwölfeinhalb Minuten. Der 1. etwas über 12 Minuten.
Also die Mitte zwischen Bernstein und Karajan.
LikeLike