Während die Donauquelle quillt und das SWR-Orchester zwischen Putin-Fan Currentzis und Penis-Freund Roth in den Seilen hängt, laufen die Donaueschinger Musiktage 2024.
Die erste Uraufführung kommt von Simon Steen-Andersen, grosso für Quartett (Yarn Wire, 2 Pianisten, 2 Schlagzeuger) und Orchester (37′). Getragen wird das unausgeglichene Stück von weich gerundeten, vom Klicken und Klacken der unterschiedlichen Objekte gefüllten Geräuschfelder. Wozu die Schwerkraft des Wummerns die Sättigungsbeilage liefert. Das ist dann so eine Art Am Kamin 4.0 in Neue-Musik-Sprech. Interessanter wird es, als sich das Orchester mit lustvoll platzenden Fanfaren und Brucknerchorälen zwischen die Ready-Made-Friemelei schiebt. Dazwischen reizt Steen-Andersen mit einer Hammondorgel das Nostalgiepotenzial zwischen schön pittoresk und schal banal aus. Aber stellenweise klingt das so durchgedreht wie die besten Steen-Andersen-Klassiker.
SWR: Steen-Andersen, Pascale Criton, George Lewis
Demgegenüber mutet Alter (deutsche EA), komponiert von Pascale Criton, mit ihrem ganzen mikrotonalen Ausgefuchstsein traditionell, ja angenehm gediegen an (22′). Die Partitur klingt elegant, wunderschön klangsensitiv. Juliet Fraser (Sopran) singt den in Einzellaute fragmentisierten, unverständlich bleibenden Text (etwas langweilig). Aber dann wird rezitiert: „Restricted horizons. Am I alone? How to get through these days?…“ Au weia.
Der US-Amerikaner George Lewis, einer der angesagten Altmeister derzeit, geht mit The Reincarnation of Blind Tom an den Start, einem Doppelkonzert für Saxophon und selbstspielendes KI-Klavier und nebenbei einer Huldigung an den US-Musiker Thomas Wiggins. Im soften Klang-Flow ist eher wenig von einem Beef zwischen Saxophon (Roscoe Mitchell, heftig ariös und immer auf Clinch aus) und KI-Pianistem zu hören (Programmierung RNCM-PRiSM). Allerdings steckt hinter dem jazzigen Ton eine Komponier(oder Programmier-)haltung, die ihren Platz zwischen Skalen-Konvention und KI-kanalisierter Kreativität noch sucht (besonders ab 10:00 und 18:15). Dennoch liefert Lewis Werkschichtenvielfalt und Durchblickeinsichten, die durch die 24 Minuten tragen.
Susanne Blumenthal leitet das SWR Symphonieorchester. Ich höre alles über SWR Kultur.
Poppe, Andre: Seligkeit, Punkt, Punkt, Punkt
Zwei gewichtige Einzelkonzerte präsentieren jeweils eine Uraufführung.
Von Enno Poppe kommt Streik für zehn Schlagzeuger zu allererstem Gehör. Das Stück scheidet sich streng von Farbe und Sinnlichkeit, behauptet sich konstruktiv und kommt einer Aufforderung an den Zuhörer gleich, der knapp einstündigen Genese, Variation und Auslöschung von rhythmischen Modellen zu folgen. Was in etwa dem Versuch ähnelt, einen Überblick über die Folge von Motivvarianten der Violinsechzehntelsextolen in der Reprise des Themas in Bruckner VII,2 zu behalten. Es lassen sich in Streik sechs bis zwölf mehrminütige, in sich dynamisch relativ konsistente Abschnitte ausmachen. Auf chaotische Ballungen wird verzichtet. Natürlich dekliniert Poppe die Themen Prozess, Verlauf, Detaildifferenz durch, also bereitet das Hören von Streik ein eher intellektuelles Vergnügen. Gespielt vom Percussion Orchestra Cologne.
Noch länger fällt …selig ist… von Mark Andre aus (auch vom Titel her). Pierre-Laurent Aimard führt aus. Der gibt Zellmotivakkumulierungen und Akkordfortpflanzungen, tausendfüßlerische Diskanttriller, Linke-Hand-Blitze. All dies schafft Eigenwerte aus Ausdruck. Dem fügt die Elektronik (SWR Experimentalstudio) schwebende Hallräume hinzu, meist aus Nachklangwerten des Flügels aufgebaut. Die Elektronik bleibt so dezent wie der Solist beherrschend. Das ist folgerichtig, genau, durchsichtig. Wie Poppe so verzichtet auch Andre auf Massierung und bleibt jedem Realismus fern.
Man kommt beim Hören auf SWR Kultur sogar ohne das Festivalmotto „alone together“ aus, auch wenn man sich fragt, wieso dieses nicht „ich allein zuhaus“ oder „wir beide ganz allein“ lautet.
Lovemusic: nervig
Absolut nervig, zumindest für den Zuhörer über SWR, das Konzert von lovemusic. Denn ich erkenne nicht, wann die vier Stücke (Kari Watson Enclosure, Hannah Kendall Tuxedo: Between Carnival and Lent, David Bird Hinterlands (UA), Laura Bowler Blue (UA)) jeweils aufhören und beginnen und wann die Übergänge zwischen den Stücken aufhören und beginnen. Dazwischen gibt es Sprechstrecken, vermutlich Textzitate, alles ziemlich existenzialistisch. Als Bezugspunkte der Kompositionen dienen A Field Guide to Getting Lost von Rebecca Solnits, die Science-Fiction-Erzählung Hinterlands von William Gibsons, Zeitzeugenberichte aus den 1930ern, Tuxedo von Basquiat, die Bibel sowie The Poetics of Space von Bachelard. Gar nicht lustig, öde, abtörnend.
Etwas bemüht wirkt auch das gutmenschelnde Konzept von Séverine Ballon in Shared Sounds, in dem Migrantenmusik verfremdet auf das Podium gebracht wird.
Alvarado, Glojnarić, Czernowin: Ding, äh, Dings, äh, Dongs
Drei Uraufführungen bietet nochmal das Abschlusskonzert mit dem SWR, das Vimbayi Kaziboni dirigiert. Klassiker der Neuen Musik kommen während der drei Tage nicht zu Gehör, weder Lachenmann noch Rzewski. Francisco Alvarado bringt in Rew, Play, Ffwd einen Nostalgieansatz rein, der dem von Steen-Andersen gleicht, bei Alvarado nun geht es um Audiokassetten. Alvarado besitzt aufsprudelnde Klangphantasie, dazu den Mut, Zeitstrecken zu gestalten. Was sich u.a. in wüsten Material-Verwürfelungen äußert, aber plötzliche Durchbrüche wirken dann wie Neoklassizismus oder Gralsaue. Es bleibt der Eindruck: etwas aufgeplustert.
Sara Glojnarić fabriziert mit Ding, Dong, Darling! ein im Sinne alter expressiver Werte fröhlich inhaltsleeres Werk, dem der Pop des Titels durchaus entspricht (12′). Ding, Dong, Darling! ist reaktionsschnell, witzig, bissig. In seinem Ablauf könnte es vermutlich komplett aus einer Software gespielt werden. Freilich würde man drei solcher Stücke in einem Festival nicht aushalten.
Chaya Czernowin vertritt mit Unforeseen dusk: bones into wings für sechs Stimmen plus Orchester (36′) wiederum einen traditionellen Weg. Warum hier eine Stimme „als Geräusch“ „Sinneseindrücke nackter Emotionen“ vermitteln soll, wird aber nicht klar. Da ist Czernowins Art, melismatische Stimmen in eine fließende symphonische Struktur einzuflechten. Laut Aussage der Komponistin „dringt [das Werk] in tiefe innere Winkel und Landschaften des Selbst vor.“ Macht das nicht auch der Kaiserwalzer? Es singen wie so oft die Neuen Vokalsolisten. In Unforseen dusk ist ein bissl viel Schnulze.
Alles wie gesagt über SWR Kultur gehört.
Ist man nach Donaueschingen 2024 gescheiter? Ein bissl.
Donaueschingen 2024 Kritik: „Allein, gar einsam“ (Lotte Thaler), Videoberichte von Rainer Nonnenmann, „Donau so blau“ (Eleonore Büning)
Wie auch immer, das hier kommt dem nahe, was ich mal gesehen habe:
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Hab mir mal grad eine CD der Oper „Una cosa rara“ angehört. Libretto von Lorenzo da Ponte, und die Musik von Vicente Martín y Soler. Das war damals moderne Musik, und sogar Mozart hat sie im zweiten Finale vom Don Giovanni zitiert. Warum? Weil das erfolgreicher als sein Figaro war, der zu viele Töne hatte. Nach Ansicht des Kaisers Franz Joseph, scheinbar, und der des Wiener Publikums, auf jeden Fall.
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Was soll der Currentzis denn machen, bitte? Sein Orchester, an dem all seine extremen Interpretationen hängen, aufgeben und den Edlen von Brabant spielen? Vom Sofa hat man leicht reden.
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