Ist La Fanciulla del West (deutsch: Das Mädchen aus dem Goldenen Westen) Puccinis Problemoper? Die deutsche Kritik sah Puccini schon Anfang der 1920er „anregend zwischen süßem Schmachten und leidenschaftlichem Toben“ (Paul Bekker) pendeln. In jeder einzelnen Wild-West-Szene aus „Fanciulla“ steckt mehr Verismo als in der gesamten Künstlerpaartragödie Tosca, ganz zu schweigen vom Jugendstildrama Butterfly.

Brandon Jovanovichs sexy Schlaksigkeit konnotiert mehr elitäre Ostküste als staubigen Wilden Westen. Aber der US-Amerikaner singt die exponierten Stellen angestrengt und macht wenig Eindruck mit dem Arienhöhepunkt Ch’ella mi creda. In den Duetten läuft die Tenorstimme aber fabelhaft warm, besitzt genuine Tonschönheit und diesen echt italienischen, zurück auf Pinkerton (Butterfly) und vor auf Calaf (Turandot) weisenden erotismo.

Für die Minnie hat Anja Kampe leuchtendes Temperament und warmen Ausdruck, besonders in den Solonummern. Die sind zwar allesamt wenig hitparadentauglich, weil in Dialog und Gespräch eingebaut, aber schlussendlich hinreißende Musik: die Kindheitserinnerung Laggiù nel Soledad, das übermütige Se sapeste, das proklamative, dem Liebsten das Leben rettende Non vi fu mai. Bei Kampe aber wird klar, warum die Minnie das anrührendste, reichste, kompletteste Frauenporträt aus der Feder Puccinis ist. Die höllisch unangenehm zu nehmenden Spitzentöne, die Puccini unbarmherzig vorschreibt, gehen bei Kampe daneben, in der letzten Vorstellung mehr noch als davor. Die Erschöpfung am Saisonende?

Auch in der Wild-West-Oper Fanciulla del West begegnet das schon bei Donizetti & Verdi für knisternde Psycho-Spannung sorgende Sopran-Tenor-Bariton-Dreieck. Der Sheriff Jack allerdings ist als Baritonbösewicht psychologisch fein gezeichnet. Man hört Tomasz Konieczny, und in der letzten Vorstellung Michael Volle, Konieczny als verbitterten, Wut-knurrenden Leitwolf, der seine Minnie lustmolchig als kalifornischer Scarpia bedrängt, wobei Koniecznys Bariton so unpoliert metallisch klingt wie ein zerkratzter Colt. Seine Spitzentöne sitzen. Und Michael Volle als autoritativen Macho mit unbestreitbarer Grandezza, sowohl darstellerisch wie vokal – „Weddinger Charme“ kommentiert eine Berlinerin. Weder Wolfgang Koch, für den Konieczny und Volle einspringen, noch Volle selbst singen nächstes Jahr Unter den Linden. Jan Martiník verkörpert einen mächtigen Ashby, rauhbolzig, mit bräsiger Dienstautorität, aber mehr noch mit krasser Bühnenpräsenz.

Sehr hörenswert die vielen comprimarii, allen voran Arttu Kataja.

Simon Young bündelt am Pult die Stimmgeflechte der Partitur zu umtreibender Musik, hier Melodiebruchstück, da Affektausbruch und Handlungsschilderung. Das wirkt bei Young hin und wieder filmy, doch bleibt die dramatische Kontinuität gewahrt, mustergültig im Duett im zweiten Akt, wo auch die zentralen Motive – das herrliche Dreistufenmotiv aus dem Liebesduett und jenes, das im 3. Akt zu Ch’ella mi creda wird – aufeinandertreffen.

Dem Gelingen im Szenischen im Allgemeinen steht eine recht hohe Zahl an Schlägereien im Besonderen gegenüber. Ein Nachteil der Inszenierung ist aber, dass das Duett des zweiten Akts in einer volle zehn Meter von der Bühnenkante nach hinten gerückten Zimmerschachtel stattfindet. Das fünfminütige Video vor dem dritten Akt dürfte unnötig sein.

Besitzt La Fanciulla del West Schwächen? Vielleicht doch das lieto fine, den „fröhlichen“ Schluss, der die Oper zu einem modernen Märchen macht. Puccinis letztes Bühnenwerk Turandot wird diesen Weg konsequenter zu Ende gehen.