Siegfried hat nicht ganz die Höhe wie Die Walküre. Das liegt an – Thielemann und Kampe. Und an Tscherniakow.

Am zweiten Tag des Bühnenfestspiels, da der Märchenstoff des jungen Siegfried den Göttermythos um Wotan verdrängt, bevorzugt Dmitri Tscherniakow das ruhelose Kreiseln der Drehbühne. Das horizontale und vertikale Ausgreifen der rätselhaften Raumfolgen des ESCHE-Forschungsinstituts tritt (vorerst) in den Hintergrund. Der einsame Alberich schlurft nun ruhelos um Neidhöhle, stößt Tür um Tür auf, bis er auf den gehassten Bruder und seinen alten Widersacher Wotan trifft. Aber was will Tscherniakow eigentlich sagen? War Rheingold die kühne Intrada, war Walküre die virtuose Weitung, ist Siegfried die Verwässerung.

Was hauptsächlich für die Konzeption gilt. In den einzelnen Szenen wird noch leidenschaftlich genau inszeniert. Und gespielt.

Dass ziemlich Gute beim Jung-Siegfried von Andreas Schager (Trainingsanzug, Schlabbershirt) ist, dass er die gedankenlose Garstigkeit dieser kulturlosesten aller Wagnerfiguren umbiegt in etwas, das wirklich nach Aufbruch aussieht. Und Tcherniakov hilft dabei. Er tilgt den Märchenton, der Regie und Tenöre traditionellerweise zu Peinlichkeiten reizt. Weil Schager bestechend singt – spontan, leicht, fest, umwerfend locker in der Aussprache, nie nur Deklamation, immer ein bissl Legato – ist dieser Siegfried imponierend. Schager deutet Wagners Heroentum burschikos in eine Art höheres Anti-Heldentum um. Gegen Schagers Frische wirken alle anderen heutigen Heldentenöre behäbig.

Staatsoper Berlin Premiere Siegfried Thielemann Michael Volle Wanderer
Max Frisch und Martin Walser beim Gedankenaustausch / Foto: Monika Rittershaus

Der Mime von Stephan Rügamer (die Brille à la Max Frisch, die Hose mit Hosenträgern bis über den Bauchnabel gezogen) wird fabelhaft gespielt und listig kichernd gesungen. Dem Wanderer nimmt die Regie meines Erachtens viel, wenn sie Michael Volle als pensionierten Instituts-Chef in ausgebeulter XXL-Sommerjacke nur noch altersmatt durch die ESCHE-Flure streichen lässt (heute hätte ich von Volle auch mehr Gesang gewünscht, und weniger Deklamation). Den Fafner mimt Peter Rose (heute passt sein leicht überreifter Bass) in Zwangsjacke, verwahrlost, asozial, und doch ein gefährlicher Hüne, vor dem Siegfried sich im Zweikampf vorsehen muss. Macht Spaß. Den Drachenkampf habe ich nie packender gesehen.

Siegfried Andreas Schager
Foto: Monika Ritteshaus

Ungewohntes gelingt der Regie abseits der eigentlichen Heroenhandlung. Ich meine die kurzen Szenen Alberich-Wotan (Beginn Akt 2), Alberich-Mime, Wotan-Erda (Beginn Akt 3). Besonders der Alberich von Johannes Martin Kränzle (sehnig stimmstark) punktet. Der ist ein seniles Biest: schwarze Intellektuellenbrille, Strickwestchen, Flanellhemd. Vollends imponiert die Rempelei zwischen Wotan und Erda, der Anna Kissjudit (mit eisgrauem Schopf) prachtvolle Gestalt irgendwo zwischen Madeleine Albright und Judi Dench verleiht.

Eigentlich zählt auch der erste Akt mit der kess und flott erzählten Handlung zur Habenseite, und im Prinzip gilt das ebenso für die jeden Heldengestus brechende Brünnhildenszene. Deppert nur das Stoffpferdchen. Gewohnt öde nur die für den Ablauf der Oper sowieso unnütze Wissenswette.

Dafür gerät der Auftritt des Waldvogels in Gestalt von Victoria Randem herzerwärmend. Im strengen Labormantel ist sie ein Abkömmling der Rheintöchter, nur dass Randem mit umwerfendem Lächeln den Siegfried bezirzt und statt glockenhell eher kraftvoll singt.

Am Montag passte für Anja Kampe in Die Walküre einfach alles (sie war rundum besser als in jeder einzelnen ihrer Isoldes an gleichem Ort). Bei der Siegfried-Brünnhilde ist das anders. Kampe hat dafür nicht die Stimme. Es sind nicht nur die schlecht angestückten Spitzentöne (die man schon kennt). Es fehlen Metall, Projektion, Kraft.

Christian Thielemann modelliert Wagners Orchestermelodie in den ersten beiden Akten frappierend. Schagers Tenor schwimmt wie der Fisch im vielstimmigem Orchesterstrom. Dazu tönen die Streicher der Staatskapelle satt, warm, rund, voll, dunkel, immer präsent. Weich schallen die Hörner, markant Posaunen und Tuben. Thielemann hat Wärme und rhythmisches Vorwärtsdrängen. Das passt. Linien haben Kontur, Piani ihr ganz spezifisches Gewicht. Und wie die an sich melodisch unergiebigen Nibelungen-, Nibelungenhass- und Grübelmotive sich zum souverän atmenden Musizierfluss fügen, das sucht fast seinesgleichen. Interessant ist auch, wie sorgfältig Thielemann Tonfälle der heiteren Musikkomödie herausarbeitet. Aber es gibt auch Kritik. Im erst ab 1869 mit der Erfahrung von Tristan und Meistersingern komponierten Finale gehen Thielemann und der Staatskapelle die Pferde durch. Es ist zu laut, zu lang, zu kompakt.


Weitere Kritik zur Siegfriedpremiere: „Mit einem gewaltigen Verlust an Poesie und Wärme“ (Clemens Haustein), „Fröhlichsein und Singen“ (André Sokolowski), „Krisenstück“ (Matthias Nöther)