Wird es 2030 Konzerte geben, die sich ganz der Corona-Musik widmen? Also mit Musik, die in den langen Lockdown-Wochen komponiert, aufgenommen oder ersonnen wurde?

Dann kämen nicht nur die Lockdown-Tapes des Ensembles Musikfabrik in Frage, sondern auch das ca. 20-minütige Werk Fenster der Ungarin Judit Varga. Der Untertitel von Fenster lautet: Zwölf wundersame Welten im Lockdown, und die sind jetzt im Radialsystem beim Format „Ohrknacker“ zu erleben. Wie immer wird das Stück zwei Mal gespielt und zwischendrin vom Trio Catch erläutert. Heute ist es lustiger als sonst. Es muss am ungarischen Temperament liegen. Zwölf Teile umfasst Fenster. Jede Miniatur dauert relativ exakt 90 Sekunden. In jeder schaut der Zuhörer mit den hörenden Augen der Komponistin in eine Corona-Wohnsituation. Was überraschenderweise nicht immer deprimiert klingt, sondern gerne auch ziemlich lustig.

Treppe im Radialsystem: et lux perpetua. Freue mich immer, wenn ich da hochsteige

Aphoristisch kurz und gewitzt wirken Fenster No. I und V, fröhlich die „wundersame Welt“ No. VII, geräuschhaft das in angenehm klare Kurzabschnitte gegliederte X, fröhlich und voll flinker Gesten VII und extrovertiert gar Fenster XI. Sowohl die heimelig gedämpfte Nr. IX (mit Mundharmonika) als auch die vollmundig pochende No. VIII könnten aufregender sein. Mich interessiert dann doch, ob das stimmt mit den 90 Sekunden. Drei Mal stoppe ich diskret die Zeit. Eimal dauert das Stück 91 Sekunden, einmal 92. Respekt. Nur beim ungarischen Volkslied sind es 110 Sekunden. Was ist das Fazit? Schönes Konzertchen, nicht zu lang, hinten steht die Mini-Bar, hinterher kann man mit den Musikerinnen quatschen.

Einen Tag später ist das Ensemble unitedberlin im feinen, bewährten Werner-Otto-Saal des Konzerthauses zugange. Im Gepäck hat man vier Werke, die laut den Musikern irgendwie immer zu kurz gekommen sind. Drei Stücke stammen von Berliner Komponisten. Felix Kriegers Canti I – III pendeln wild zwischen rabiater Ausgelassenheit und bleierner Statik. Fröhlich lärmend klingt das – und zieht sich, vor allem, da die „Gesänge“ doch sehr ähnlich sind. So geht – was selten vorkommt – Extrovertiertheit mit einer gewissen Langeweile einher. Aber die Bläser haben tolle Einsätze. Ruhiger gibt sich das elfminütige Sowohl als auch von Sebastian Stier. Ziemlich genau in der Mitte wachsen dem Stück für ein paar Sekunden melodische Konturen – wie verborgene Flügel. Seinen Reiz entfaltet das Stück aus dem Nebeneinander von bedachtvollen (oder missgelaunten, je nachdem) Haltetönen und Einwürfen von Klavier und Vibraphon. Ich höre gerne hin.

Vox tenebrae: der feine Werner-Otto-Saal

Die Stimme von Angela Postweiler spielt die hochinteressante Hauptrolle in Cansiòn von Sergej Newski (auf einen Text von Pasolini). Sparsam kommt das Werk daher, Akzente werden spielerisch gesetzt, und dezent umschmeichelt das Saxofon (Christoph Enzel) die (ehrlich gesagt wenig verständliche, expressive Melismen verlautbarende) Vokalstimme. Postweilers Ausbrüche wiederum ziehen weitschweifige Kommentare des Tuttis nach sich. Zu Beginn hört der Saal Through a Glass Darkly für Klarinette, Trompete, Akkordeon. Es stammt von der Australierin Nirmali Fenn. Das Trio ist scharf gehört, ist voller dicht und sparsam gesetzter Stimmen und beinhaltet ein kurioses Solo für Akkordeon. Gefällt mir gut. Es leiten Felix Krieger, Christoph Breidler, Sergey Neller. Wie eigentlich immer bei unitedberlin ist das heute Abend ein informativ spaßmachendes Konzert.

Die Veranstaltungsorte reagieren je anders auf die Pandemie: Im Radialsystem gilt 2G, im Konzerthaus 3G. Ausweiskontrolle gibts nur im Radialsystem.