Ultraschall Berlin zieht an Tag 2 in den Südostteil der Stadt und macht im Heimathafen Neukölln Halt. Das Programm bringt ein Komponistinnenporträt und einen Trio-Abend.

Im heimeligen Stucksaal des Heimathafens präsentiert das JACK Quartet vier Streichquartette der in Berlin lebenden Italienerin Clara Iannotta. Die vier Werke ähneln dank eines ausgeprägten Personalstils einander stark. Sie tönen leise, arbeiten mit präparierten Instrumenten und klingen, als lausche man einer tektonischen Plattenverschiebung. Von allen geht die Faszination des Fremden aus. Beim Hören werden allerdings auch Unterschiede deutlich. Dead wasps in the jam jar (iii) beschreibt rätselhafte Vorgänge, von denen man als Hörer gleichsam nur entfernte Schatten bemerkt. Die für Iannotta konstituierenden, unheimlich körperlichen Reibprozesse schaffen dabei äußerste Ferne und verstörende Gegenwart.

Carla Iannotta Ultraschall Berlin 2020
Clara Iannotta: Die Komponistin stürmt die Bühne

Doch im folgenden A failed Entertainment wirken die Spielfiguren plötzlich plastischer, die Aktionen schärfer gefasst, ist der Klang gläserner, die Faktur lockerer. Die so entstehenden Gebilde scheinen von mikroskopisch ausdifferenzierter Plastizität und Haptik. Das JACK Quartet agiert vorbildlich konzentriert.

Clara Iannotta: tektonische Plattenverschiebung

Nach diesen beiden Stücken vermag die Uraufführung You crawl over seas of granite weniger zu fesseln. Sanfte dynamische Wellen mit geringen Pegelausschlägen prägen das Werk, die jeweiligen Klangräume der vier Instrumente liegen hier näher beieinander. Ganz anders dann Earthing – dead wasps (obituary) mit seinem metallisch geschärften Klang. Da werden die Aktionen der Spieler hinter Hüllkurven verborgen. Amorphe, blasenwerfende Bewegungen dominieren. Die Anmutung äußerster Fremdheit überwiegt auch in diesem Werk. Das Porträtkonzert als Ganzes ist äußerst aufschlussreich. Die Komponistin ist anwesend.

Eine Stunde später lädt das Trio Accanto zur Spätveranstaltung und widmet sich Werken am Rand des Repertoires, was nicht zuletzt der innovativen Besetzung von Klavier, Saxofon und Schlagzeug geschuldet ist. Während in Yu Kawabaras In Between das Altsaxofon mit insistierenden Figuren dominiert (aber sonst etwas eintönig tönt), setzt Exercises 37 & 38 von Christian Wolff die Instrumente gleichwertiger ein und lässt die kurzatmigen Aktionen des Saxofons in einen größeren Zusammenhang einfließen, wobei Exercise 37 genauer wirkt.

Am interessantesten scheint mir Sinaïa von Johannes Schöllhorn, wo sich zwischen den meditativ gedämpften Melodien des Saxofons die metallischen Hallräume der Gongs öffnen, belebt von transparenten Spritzern des Beckens. Trio Funambule von Georges Aperghis schließlich präsentiert sich ungleich gestaltenreicher. Es lebt von der Dualität erregter Ausbrüche und spielerischer Repetitionspassagen (funambule = Hochseilakrobat). Letztere sind besonders geglückt. Klavier und Schlagzeug verzahnen sich subtil, wobei der nachkomponierte zweite Teil an Leichtigkeit zurücksteht.

Trio Accanto Ultraschall Berlin
Das Trio Accanto nach getaner Arbeit

Weil Ultraschall Berlin fünf Tage dauert, findet das Eröffnungskonzert schon am Mittwochabend statt. Das DSO unter Johannes Kalitzke spielt Nemtsov und Widmann.

Los geht es mit Sarah Nemtsovs siebzehnminütigem dropped.drowned.

Das zartkonturige, von subtiler Expressivität durchzogene Stück scheint pausenlos zu schweben. Dennoch ist die Dramaturgie überzeugend. Sie entsteht aus Temposchwankungen, aber auch aus dem Dualismus von untergründigem Pulsieren und Klangwolken aus haarrissfeinen Schwebestoffen.

Sarah Nemtsov: dropped.drowned

Dann wieder verschmelzen Einzelaktionen zu einem ausgeklügelten Klangteppich. Das ist teilweise superdicht gestaffelt. Die Klangfarbe ist eher hell. Und plötzlich, nach einer Tempoverschärfung, markieren dichte Pulsationen den dynamischen Höhepunkt. 2017 uraufgeführt, ist dropped.drowned eines jener verführerischen Werke, die man sofort wieder hören könnte. Informationen zum Werk hier, Nachhören geht hier.

Tja, was ist zu Jörg Widmanns 2. Violinkonzert zu sagen? Von Nemtsovs subtil bewegter Orchesterstudie vor der Pause fühlt man sich nach der Pause auf den Teppich des Zauberers Petrosilius Zwackelmann gezerrt. Das in drei Sätze unterteilte Konzert (Una ricerca, Romanze, Mobile) jagt spätromantische Gespenster, wechselt von vibratolosem Spiel plötzlich ins Vibrato, ballt sich zu vierfachem Forte, verdonnert Blech und Streicher schließlich gar zu fünffachem Forte. Spielanweisungen wie visionario und misterioso im 2. Satz tauchen (zu) häufig auf. Der 3. Satz hat wienerische tänzerisch-Stellen. Drei Spieler bedienen allein die 31 Schlaginstrumente bzw. Schlagzeuggruppen. Klar ist das irgendwie kalter Kaffee. Und doch vermag ich – ansonsten durchaus kein Fan des weitverzweigten Widmannschen Œuvres – hier und heute der Faszination des Werks zu erliegen. Solistin Carolin Widmann gibt den violintechnischen Taschenspielereien einen ernsten Anstrich. Aber sind nicht alle Violinkonzerte Taschenspielereien?

NB: DSO-Konzert habe ich auf Deutschlandfunk Kultur aufgenommen und nachgehört.


Besprechungen und Kritik: von Hundert11 (Das könnten die Berliner Philharmoniker ruhig spielen zum Eröffnungskonzert), von Martin Wilkening (Klappern, Scheppern), von Mario-Felix Vogt (Radikale Musik)