Ultraschall Berlin läuft auf Hochtouren. Ultraschall-Etappe Nr. 4 verschlägt es ins Radialsystem V – der Festival-Tag ist vollgepackt mit vier Konzerten. Neue-Musik-Fans können froh sein, bis kurz vor Mitternacht gibt es Festivalprogramm satt an diesem januarsonnigen Berliner Wintertag.

Ultraschall Nemtsov
Vier Notenständer, Minguet Quartett, Sarah Nemtsov

Den Start macht um 14 Uhr das Minguet Quartett mit Sarah Nemtsov. Kompositionen der Berliner Komponistin bilden einen Schwerpunkt des diesjährigen Festivaljahrgangs. Nach dropped.drowned am Mittwoch folgen heute drei weitere Nemtsov-Werke. Zwei davon spielen die Minguet-Leute im großen Saal: IRA (von 2013) und weggeschliffen (von 2018). In IRA kommt die Paetzoldbassflöte oder Subgroßbassblockflöte zum Einsatz, das vermutlich hässlichste Musikinstrument. Aber Nemtsov spendiert diesem viereckigen Holzblasungeheuer einen spannenden, extrem kurzweiligen Ausflug in die Gefilde heftiger Flötengestik mit allem Virtuosenschnickschnack inklusive Überblasen, perkussiver Einsätze und Geräuscherkundung. Und wie oft bei Nemtsov bedingen sich Schärfe des Details und schlüssige Dramaturgie gegenseitig. Flötist Jeremias Schwarzer verlangt sich und dem Instrument alles ab.

Harzige Plastizität: zwei Mal Nemtsov

Zu Nemtsovs bekanntesten Werken dürfte das direkt folgende weggeschliffen gehören. Dass das Stück Tempo hat, heißt nicht, dass es schnell ist. Aber es bewegt sich unaufhörlich, hat Atem, holt aus. Dazu tritt eine erregend fluoreszierende Haptik, die sich bis zu einer harzig-zähen Plastizität steigert (die man auch bei Clara Iannotta am Donnerstag hören konnte). Das gibt weggeschliffen die eigentümliche Spannung aus Präzision und Introspektion. Die elektronische Verstärkung ist nicht Selbstwert, sie verdichtet und weitet den Klang: Pizzicati sind von dunklem Hall. Das positive Bild, das Nemtsovs Kompositionen festivalübergreifend abgeben, verfestigt sich weiter.

Es folgen eine Uraufführung und eine Deutsche Erstaufführung. Serene von Dai Fujikura wirkt im ersten Teil wie ein Dialog. Ein Hitzkopf redet hektisch auf eine ziemlich langmütige Person ein. Der Wechsel zwischen Tenor-, Sopranino- und Bassblockflöte belebt das kurze Stück nicht wirklich. Die Komplexität von Nemtsov fehlt auch über/unter druck von Elnaz Seyedi. Der Zartheit der Faktur entsprechen minimale Gesten, doch bleibt das Werk merkwürdig blass. Allerdings würde ich über/unter druck gerne noch einmal hören.

Dann ist da noch die Sache mit Jörg Widmann. Wie am festivaleröffnenden Mittwoch beschließt ein Klopper von Widmann das Konzert. Sein Versuch über die Fuge (Fassung für Streichquartett und Blockflöte) hinterlässt einen ratlos. Dass sich Widmann mit der Großen Fuge Beethovens misst, macht die Sache nicht unbedingt besser. Die Lufthiebe der Bögen erhöhen den Wert der Komposition keineswegs. Erstaunlicherweise bleiben Buhs aus.

Die beiden Abendveranstaltungen verfolge ich am Radio.

Das „elektronische Musiktheater“ Also sprach Golem von Kommando Himmelfahrt und Kaj Duncan David erschließt sich mir gar nicht. Extrem textlastig und musikalisch dünn, (wobei sich Rezitator Graham F. Valentine und das vierköpfige SCENATET Kopenhagen achtbar schlagen) teilt sich zumindest am Radio nicht der Hauch eines Reizes mit. Das mag vor Ort, im Saal des Radialsystems, anders sein.

Das Abendkonzert um 22 Uhr hat anderes Kaliber. Was ist zu hören? Ein umfassendes Porträt der kroatischen Komponistin Mirela Ivičević. Die kultiviert zwar ein Image als fröhliches Girlie, aber hinter der durchaus bonbonbunten Kreativität, die ihre Werke atmen, steht ein konsequent aufrührerischer Geist.

Mirela Ivičević: Referenzenorgie

Das beginnt mit Orgy of References, das eine Biographie der Komponistin als turbulentes Künstlerleben präsentiert. Durchaus witzig collagiert, wird die Komponistin von Sopran Kaoko Amano mit sensationsheischenden Koloraturen herrlich schräg angepriesen. Kreative Korrespondenzen zu den bei Ultraschall 2019 gehörten Artefacts von Sara Glojnarić bestehen durchaus.

Ultraschall Quartett Minguet
Applaus für Elnaz Seyedi

The F SonG gibt sich ähnlich bunt und überdreht, doch fehlen Einspielungen von Fremdmaterial. Virtuos jongliert und spielerisch gesampelt wird aber genauso auf Teufel komm raus. In dem Stil geht es weiter. Der Charme des Unvorhersehbaren, aggressive Ironie, Gespür für transparente Texturen kennzeichnet nämlich auch Scarlet Song. Hier versucht Ivičević das Bild der Frau der Zukunft zu schaffen. Zwischen Stimmeinspielungen legt die Perkussionistin Kaja Farszky einen Superauftritt hin. Passiert wenig, ist die Komposition witzig, wird die Ereignisdichte hochgefahren, besitzt Scarlet Song Chuzpe und Prägnanz.

Etwas schwächer scheint bei erstem Hören Dreamwork, insbesondere im ruhigeren zweiten Teil. Zwar wird auch hier das Kunstwerk durch banal Reales aufgeladen, doch ist das Ergebnis weniger fesselnd. Das Wiener Black Page Orchestra – multinational besetzt, Frau Ivičevićs erklärtes Lieblingsensemble und übrigens eifrige Interpreten von Kompositionen Sarah Nemtsovs – operiert mit der Souveränität von Leuten, die ständig unter kreativer Hochspannung stehen.

Das müssen sie auch, auch wenn die nächsten zwei Werke es ruhiger angehen lassen. Aber die Sprengkraft des Ironisch-Mehrperspektivischen testet auch Baby Magnify aus. Konzeptionelle Leichtigkeit und Virtuosität im Fügen von Unvereinbarem prägen das Stück. Anschließend bringt Jinx! einen Sopran (nochmals Kaoko Aman kompetent mit kunstvoll-amateurhaftem, sprich intonationsunsicherem Zugang) und ein Sopransaxofon zusammen. Persönlich würde ich sagen, dass Baby Magnify und Jinx! nicht ganz die Präzision der anderen Stücke besitzen.

Case Black ist auch so eine Sorte extrem kreative Klangsuppe. Dabei ist der Hintergrund ernst und reicht zurück zur Kriegsgreuel der Schlacht an der Sutjeska 1943 im heutigen Bosnien und Herzegowina. Zwischen dem schillernd stilistischen Pluralismus schieben sich hier ausnahmsweise auch ernste Töne.

Ruth Jarre von Deutschlandfunk Kultur moderiert angenehm unprätentiös. Etwas enttäuschend ist dann aber doch, dass das letzte Stück Case Black wegen des bis 23 Uhr getakteten Sendeformats nicht mehr übertragen wird. Ich habe Case Black auf der Seite von Ivičević nachgehört. Dort interpretiert auch das Black Page Orchestra.

Lobenswert: Deutschlandfunk Kultur überträgt alle Abendveranstaltungen leicht zeitversetzt oder live.


Meine Ultraschall-Kritiken der Festivaltage 1 und 2: Nemtsov, Widmann, Iannotta