Die Brahms-Perspektiven des DSO befinden sich auf der Zielgeraden. Brahms‘ Dritte und Vierte stehen an, begleitende Beiträge kommen freitags von Wegbegleiter Wagner und Debussy, am heutigen Samstag von Reimann und Vorgänger Bach. Dass Brahms‘ Schaffen sich in Gesang gründet und sich an ihm entzündet, zeigt Ticciati, indem an beiden Tagen Singstimmen zum Einsatz kommen, Dorothea Röschmann bei Wagner, Sarah Aristidou heute.
Freitag: Brahms 3, Wagner, Debussy
Brahms, Sinfonie Nr. 3.
Ticciati bleibt sich treu. Sachlich und direkt klingen die Holzbläser (2. Thema Allegro con brio, Thema Andante). Kompakt und straff auch das Hornthema der Durchführung. Ticciati und seine Musiker treiben atemlos, ja, hektisch voran. Im Kopfsatz fehlt etwas die frische Spontaneität, kompakte Ungeduld ist allerdings da. Auch Feuer. Doch welches Feuer brennt in dieser Dritten? Das bleibt unklar.
Die exemplarische Klarheit des Andante impliziert Beschränkung im Hier und Jetzt. Lyrische Extase wird eher angetippt denn ausgespielt. Knapp gefasst auch das Allegretto, man fühlt sich wie auf einer Reise: diskrete Abläufe, beiläufiger Puls. Wehmut wird verweigert. Stattdessen waltet ein Hauch eleganter Diskretion vor. Das Finale wird direkt ausmusiziert. In ihm geht es stürmisch und geradlinig robust zu. Die Kulminationen kommen hart bestimmt. Das lange Ende hat Bewusstsein für Prozess, doch keine Poesie. Wenn es an etwas mangelt, dann an Persönlichkeit und Wagnis.

Wagners Wesendoncklieder singt Dorothea Röschmann. Für Wagners intime Liedkunst setzt sich Röschmann mit ihrer eindringlichen Kunst ein. Etwas Besonderes ist die Farbpracht in Höhe und Piano. Extrovertiertes und Introvertiertes gehören bei ihr untrennbar zusammen. Eine solchermaßen souveräne Erlebnisfähigkeit ist nachvollziehbar in jedem Piano, in den weit geöffneten Vokalen (himmälwärts, Sonnä), im prozellanfeinen Vibrato, in der flackernd ruhelose Dynamik. Dominant ihr Register in der Tiefe (Dich erreicht der frühe Tod). Das pauschale Forte-Blech in Schmerzen (eine Art Walhall in Hundehütten-Größe) erinnert daran, dass die Orchesterfassung von Felix Mottl und nicht von Wagner stammt.
Jeux, von Debussy, zählt vielleicht zu den unbekanntesten Meisterwerken des 20. Jahrhunderts. Alles ist hier Elastizität, Prozess, Schlankheit des Klangs, plötzliche Erhitzung, ungeheure Suggestivität. Und dennoch gibt sich das Stück rätselhaft abstrakt. Dem Impressionismus vollständig entwachsen, überträgt es dessen kleinste Einheiten flugs in die Moderne. Es ist ein Werk an der Schwelle des Alters, uraufgeführt 1913. Auch hier lässt Robin Ticciati Sachlichkeit und wohltuende Distanziertheit walten.
Das Deutsche Symphonie-Orchester spielt beherrscht und diszipliniert.
Samstag: Brahms 4., Reimann, Bach
Vor ausverkauftem Saal spielt Kristian Bezuidenhout das Präludium E-Dur aus dem Wohltemperierten Klavier II und das „Klavierkonzert“ Nr. 2 E-Dur. Bachs Präludium lässt Bezuidenhout mit introvertiertem Geschmack fließen, für Bachs Konzert ordnet er sich der Gemeinschaft der Streicher ein. Er ist Mitspieler, nicht Gegenspieler, der Anschlag ist kultiviert, die Farbpalette kolossal, die Interpretation leider aufs Intime verkürzt.
Im Mittelpunkt der Uraufführung Fragments de Rilke von Aribert Reimann steht die menschliche Stimme. Das klare und durchsichtige Stück exponiert die Sopranstimme in oft hoher Lage. Verknappte Erregungsfiguren der Streicher und kürzelhafte Einwürfe der Bläser begleiten die gesungenen kurzen Entwürfe Rilkes. Aribert Reimann ist einmal mehr damit beschäftigt, das Raffinierte auf rätselhafte Weise einfach scheinen zu lassen. Sarah Aristidou realisiert die kurzen Zeilen Rilkes mit gespanntem Vortrag und makelloser Höhe.

Die 4. Sinfonie gelingt überzeugender als die Nr. 3 am Tag zuvor. Anders als gestern entwickelt Ticciati heute die Vielzahl der Farben, Schattierungen und Töne aus einer Tonalität. Dazu lockert Ticciati den dunklen Klang auf. Ausdrucksextreme scheut er ebenso wie lyrische Breite. Typisch Ticciati: Er verliert sich nicht in der Musik. Die Organisation ist straff. In den besten Momenten, da wo Beschleunigung in fabelhaft überhitzte Struktur übergeht, scheint die Musik von sich selbst getrieben. Das wache, beherzt musizierte Andante moderato pendelt zum Prosaischen, der 3. Satz zu kompakter Verdichtung, und dieser klingt plötzlich bis an die Zähne bewaffnet. In der Coda des Finales findet Ticciati den großen Ton, da ist es der strahlende, weniger sinnliche denn abstrakte Glanz der Bläser. Nur in den zwei zum Repriseneintritt leitenden Variationen mangelt es an verbindender, Vergangenheit und Zukunft des Satzes zusammendenkender Spannung.
Weitere Kritiken: Brahms-Perspektiven (Hundert11)

Ich war am Freitag, fands toll. Röschmann exquisit, auch Ticciati sehr gelungen
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„Sachlich und direkt“ auch ihre detaillierten, aber nie ausufernden Beschreibungen, ohne Schlacke. Bin immer wieder beeindruckt.
Unter den 4 Brahms-Interpretationen war für mich die erste die bei weitem eindrucksvollste, aber mir gefielen alle, auch die 3., bei der ich in C saß. Auch die Kombinationen mochte ich; es war keine dabei, wo es direkt „Pling“ und „Aha“ machte, aber alle interessant. Am Bach fand ich den allzu glättenden Steinway, glaub ich, problematischer als Bezuidenhouts verhaltenes Temperament (das mir bei seinem Beethoven mal auf den Senkel ging).
Die nächtliche Lesung nach der 4. mit Harfouch und Groth war noch sehr schön und berührend, Bezuidenhout spielte Brahms‘ Intermezzi dazu. Diese Plauderkonzerte sind wohl nicht Ihre Sache? War aber gar nicht so plaudrig oder betulich wie befürchtet, sondern sehr konzentriert. Am Ende wurden im Publikum Tränen verdrückt, Hände ergriffen sich innig, und vor mir legte ein bekannter Opernsänger seinen Kopf auf die Schulter seines Mannes.
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„nie ausufernden“ muss heißen „Gott sei Dank nicht ständig und pausenlos ausufernden“
War bei mir auch so, die 1. war am besten. Bei der machte es sogar Pling. Dann die 4. Aber die beiden mag ich auch am liebsten. Freut mich, wenn Harfouch und Bezuidenhout ein Erfolg waren. Ich habe die Gelegenheit genutzt, hinter Luehrs-Kaiser Richtung Garderobe zu entwischen. Wissen Sie, wo Luehrs-Kaisers Kritik steht? Wenn ich richtig geschielt habe, hat er keine einzige Notiz gemacht.
Zyklen sind immer interessant, obwohl ich von Brahms nach 2 Durchläufen (Staatskapelle + DSO) erstmal genug habe. Ich geh auch zu Strawinsky im Konzerthaus, nur leider nicht zum 1. Konzert.
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KLK schreibt manchmal auch für die Mottenpost (wie sie unter Berlinern seit Urzeiten heißt). Ja, es gibt unterschiedliche Notiztypen. Manche schreiben gar nichts auf, andere stenografieren praktisch, ununterbrochen. Ich versuche es auch einzuschränken, es kann einen selbst aus dem Hören reißen. Brachmann sagte zu mir, als ich in Bayreuth in der Pause was notierte: „Das können Sie nachher eh alles in die Tonne kloppen.“
Hätte im Nachhinein doch gern auch den Barenboim-Zyklus mit Brahms gehört, nicht nur zur Gegenüberstellung. In der FAZ fand Clemens Haustein es falsch, dass Ticciati nicht auch bei 2 bis 4 bei der kleinen Besetzung der Ersten blieb; und an den Zusammenstellungen ließ er kein gutes Haar, die hätten gar nichts erhellt. Und wenn, dann hätte er Schönberg kombinieren müssen. Aber das wäre m.E. zu naheliegend gewesen.
Ja, zur Strawinsky-Chose werde ich auch gehen, obwohl er nicht gerade mein Herzenskomponist ist.
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„Jeux“ waren für mich eine regelrechte Entdeckung. Eins der unbekanntesten Meisterwerke des 20. Jahrhunderts, da könnten Sie Recht haben.
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