Willkommen bei Ultraschall am Samstag. 20 Stücke, 4 Konzerte, 5 Uraufführungen, 16 Komponisten, davon sind 10 Frauen. In den Konzerten mischen sich Neue-Musik-Spezis und Interessierte.
Im Heimathafen: Boulanger Trio und Zafraan Ensemble
Um 15 Uhr macht das Ultraschall-Boot Halt im Heimathafen Neukölln.
In Konzert I ist das Boulanger Trio in klassischer Klaviertrio-Besetzung zu hören. Das Konzert präsentiert kürzere Werke zweier unterschiedlicher Künstlerpersönlichkeiten, Beat Furrer und Olga Neuwirth. BEAT FURRER zieht den Kürzeren. Furrers Retour an Dich (komponiert 1986) führt in ausgezirkelte Klangwelten à la Webern. Erstarrte Schraffuren von Geige und Cello kooperieren mit klirrenden Einwürfen des Klaviers. Studie (2011) für Klavier solo, vorgetragen von Karla Haltenwanger, gerät da bewegter, vor allem in den virtuosen Oktav- und Akkordkaskaden. Lied (1993) für Violine und Klavier variiert die Darstellung distinkter Erstarrungszustände. Die Wiedergabe durch das Boulanger Trio ist beeindruckend. Furrers Kammermusikschaffen ist da gefährdet, wo Kargheit in Theater umzuschlagen droht, dem jeder Zauber verloren geht.

Geglückter sind die drei Werke von OLGA NEUWIRTH. Im Soloklavierstück incidendo/fluido (2000) ist erneut Haltenwanger die brillante Solistin. Ihre Rechte meißelt rasante Aufschwünge bis in die höchste Diskantlage in die Tasten. Es folgt Weariness heals wounds (2014) für Solo-Cello. Hier ist es eine Abwärtsskala, die in einem kontinuierlichen Transformationsprozess sich streckend und reckend von der höchsten A-Saite bis zu tiefsten Saite vordringt. Mustergültig bedingen sich gegenseitig persönliche Aussage und klare Formfindung. Das Spiel von Ilona Kindt ist ein vehementes Plädoyer für das siebenminütige Werk. Zuletzt QUASARE / PULSARE II (Trio-Fassung). Es kombiniert geschickt Impulsivität und gestische Zartheit: hier manische Erregtheit, dort schroffe Zersplitterungen.
Auf geht’s ins Konzert II. Hier macht das sechsköpfige Zafraan Ensemble die Musik. Es schnürt ein vielfältig schillerndes Neue-Musik-Bündel. Eher beliebig wirkt RICARDO EIZIRIKs Obsessive Compulsive Music (2017/18), improvisatorische und konstruktive Momente wollen sich nicht recht zusammenfügen. Der 14-Minüter gibt sich auf etwas plakative Art experimentell. Breath for Mathilde (2011) von ZEYNEP GEDIZLIOGLU für Baritonsaxofon findet ausgehend vom introvertierten Beginn zu ausgreifenderen, monologhaften Gesten. In SAMIR ODEH-TAMIMIS Efráh (2018) verhilft Anna Viechtl der Harfe zu glitzernd improvisierendem Leben. Das Stück selbst wirkt harmlos.
In Die Macht der Gewohnheit (2014) von ELENA MENDOZA verschränkt die Geigerin Emanuelle Bernard die Rezitation eines Enzensberger-Gedichts mit kurzen Geigengesten. Zum Abschluss hüllt Contretemps Soliloquy (2019, Uraufführung) den Hörer in brachiales elektronisches Wummern. Das Organisationsprinzip ist die Collage, das Formprinzip der kontinuierliche Fluss aus zusammengefrickelten Staccati und ominösem Knarzsounds. Das Ganze kommt zwar wuchtig daher, wirkt letztendlich aber reichlich disparat. Ein Hingucker sind Schlagzeuger Daniel Eichholz im gleißenden Trainingsanzug und Komponist LAURE LEANDER in cooler Schlabberhose. Das Zafraan-Fazit lautet: Die Solo-Stücke nehmen durch Kürze ein, die Ensemble-Stücke leiden an Redundanz.
Radialsystem: Neue Vocalsolisten und Ensemble Adapter
Die Konzerte III und IV des Ultraschall-Tags 4 finden im Radialsystem statt, dem Ultraschall-Hauptquartier. Die Neuen Vocalsolisten singen. Die sechs kürzeren Stücke spielen mit Texten, Textverständnis ist zweitrangig. Ziel ist meist die artistisch zugespitzte Künstlichkeit. Die allerdings oft berührt.
Den Anfang macht MICHAEL PELZELs Etüdenbuch zu Diabelli (2017/18). Pelzel erprobt hier lockerflockige, aphoristische Stimmakrobatik inklusive virtuoser Vokalisenschleifen, die mich aber etwas kühl lassen.

Achtung, Uraufführung! In behind the apples (2018) der jungen Chinesin YIRAN ZHAO arbeiten die sechs Solisten mit elektronischen Kontakten, die an Kehlkopf oder Gesicht gehalten werden. Ebenso werden Klopfgesten und Zähneklappern quasi innerkörperlich durch Schlüsselbein oder Schädelknochen an die Kontakte weitergeleitet. Darüber legt sich dann eine haptisch komplexe Geräuschschicht aus Knarz-, Röchel-, Fauch- und Raschellauten der unverstärkten Stimmen. Das ist subtil und poetisch, Leise-Hintergründiges verbindet sich mit kreativer Lust auf Neues. Altmeister GEORGES APERGHIS mischt auch mit. Passwords (2016) ist ein vokalartistischer Kommentar zur aktuellen Flüchtlingskrise und handelt das ernste Thema vor den Ohren der Zuhörer leicht und spritzig ab. Im Zentrum des Werks kommen artifizielles Durcheinandersprechen und skizzenhaftes Singen zusammen.
Die Drei (2002) von MICHAEL BEIL zählt zu den weniger inspirierenden Stücken. Was im Gestus mittelalterlicher, mehrstimmiger Musik beginnt, wird dann rasch durch spielerische Elemente bereichert. Dass A-capella-Arrangements im Stil der Comedian Harmonists als Vorbild durchscheinen, ist nicht nur zum Vorteil der Stücke. Faszinierender ist da Zaubersprüche (2018) nach altdeutschen Sprüchen von VALERIO SANNICANDRO. Zwar halten sich die klangfarblichen Veränderungen infolge sich ändernder Aufstellungen der Sängersolisten in Grenzen. Doch entstehen durchaus assoziativ beschwörende A-capella-Bilder. Schlussendlich bietet Artefacts (2018) von SARA GLOJNARIC eine kurzweilige Collage aus virtuosem Rezitieren, sentimentaler Gestik und lustigen Zuspielungen von Popvideos. Selbstironisch thematisiert die Komponistin den Vorbildcharakter von Verhaltens- und Gefühlsmodellen der Populärkultur. Das Publikum ist entzückt.
Ensemble Adapter mit Marcus, Pinnock, Diels
Konzert IV steigt um halb elf. Das mehrheitlich mit isländischen Musikkräften besetzte Ensemble Adapter empfängt. Drei Stücke, drei Komponistinnen. Die ersten beiden Stücke ähneln sich in Anlage und Gestus.

Zuerst die elegische Music for Europe (2016) der Britin NAOMI PINNOCK. Ein fließendes Grundmotiv aus zwei absteigenden Intervallen wird fortlaufend variiert. Eindrucksvoll die synchronen Stellen von Klarinette und Flöte, eingebettet in geräuschhafte Schleier. Dazwischen wirken gehauchte Harfen-Glissandi wie Klopfzeichen aus extraterrestrischen Welten. Was ist Klang? Bei Pinnock etwas zutiefst Lakonisches, aber auch Ätherisches. Kein Ensemble blättert so lautlos um wie das Ensemble Adapter.
Ähnlich licht und transparent, aber optimistischer dann das von 1983 stammende Music for Japan der US-Amerikanerin BUNITA MARCUS, die mit Morton Feldman zusammenarbeitete. Ein erstes Motiv besteht in einer aufsteigenden Skala, ein zweites pendelt repetitiv um drei Töne. Das Klangbild ist hell und präzise, die Dynamik gedämpft. Während der Interpretation von Music for Japan scheinen die Musiker stets einige Zentimeter über dem Boden zu schweben. Die Qualität des Werks ist außergewöhnlich. Die Uraufführung Sad Music For Lonely People (2019) ist die letzte von fünfen an diesem Tag. Das selbstbewusste Werk stammt aus der Feder von NATACHA DIELS, nutzt verfremdende Einspielungen und lässt die Hyperperfektion von Computersignalen gegen analog bediente Bläser, Harfe und Synthesizer laufen – ein adäquater Abschluss eines beglückend vielschichtigen Ultraschall-Tags.
Weitere Berichte und Kritiken zu den Konzerten von Ultraschall Berlin 2019: von Hundert11 und mir.