Ultraschall Berlin geht in die entscheidende Phase. Bevor die Festivalausgabe 2019 Geschichte ist, spielen Rundfunk-Sinfonieorchester und Deutsches Symphonie-Orchester schnell noch zwei Konzerte mit 6 Komponisten.
Zuerst läuft der Festival-Motor in der Volksbühne noch einmal richtig rund. Das RSB spielt.
Los geht es mit Dov‘è? (2018) von Claus-Steffen Mahnkopf, das Gedichte der 2011 verstorbenen Wissenschaftlerin Francesca Albertini vergegenwärtigt. Es handelt sich also um Totenerinnerungsmusik, wenn auch um obskure, da man als Zuhörer kaum ein Wort verstehen soll. Die knapp halbstündige Arbeit für fünf Solostimmen und Orchester hat durchgängig eigenen Ton. Gedeckte Farben und gedämpfter Tonfall entsprechen dem Komponieranlass. Die Neuen Vocalsolisten mit ihrer passgenauen Wort-Ton-Verwandlung werden den Anforderungen glänzend gerecht. Zwischenspiele und attraktive Soli der Orchestermusiker (Cello!, Geige!!, Kontrafagott!!!, Piccolo!!!!, Klarinette!!!!!) gliedern Dov’è diskret. Wenn das Werk auch nicht vor Innovationskraft knistert, so besitzt es Eigenschaften, die es in die Reihe der sehr hörenswerten Werke der diesjährigen Festivalausgabe stellen.

Tona Scherchen, Tochter des Dirigenten Hermann Scherchen, schuf mit L’Illégitime (1986) eine facettenreiche Collage, die laut Auskunft der Komponistin die schnelllebige moderne Welt beschwört. Interessant, wie naiv die Einspielungen heutzutage scheinen, und auch das Orchesterstück selbst wirkt in direkter Nachbarschaft zu Mahnkopf und Wunderwuzzi Giesen wenig authentisch.
Dirigent Wendeberg tänzelt vor dem Orchester wie ein Florettkämpfer, die Zeichengebung ist irgendwo zwischen superklar und ziemlich manieriert angesiedelt. Schickes Jackett.
Ein Sonderfall ist das Konzert für hyperreales Klavier und Orchester von Malte Giesen. Leider gehen mit Giesen – Jahrgang 1988 – alle Komponier-Gäule durch und das Ganze klingt wie Liszt aus der Lego-Box. So gab es – vielleicht wegen der lustigen Beethoven-, Wagner- und Debussy-Zitate – das einzige Buh des Ultraschall-Festivals. Dennoch ist das Konzert hochinteressant. Schade nur, dass die Transformation des natürlichen Klavierklangs in virtuellen noch nicht perfekt ist. Dennoch wirken das Neue des virtuellen Tons, seine absolute Brillanz und schattenlose Präsenz, die totale Künstlichkeit wie die pikometergenaue Tiefenschärfe hochfaszinierend (1 Pikometer = 10−12 Meter).

Die im absoluten Gleichmaß hingehämmerten Akkorde oder die infernalisch überzüchteten Filigrantriller verstören. Ist nicht jeder Anschlag die unendlich identische Reproduktion des vorangegangenen? Am Flügel hält Sebastian Berwick als hypervirtueller Tastenlöwe die Fäden in der Hand, bedient mit der Rechten den Controller und trägt seinen burgundroten Anzug mit der Souveränität eines liebenswürdigen Dandys. Giesens Konzert ist komponierter Spaß und ernste Probe aufs Exempel gleichzeitig. Wir warten gespannt auf die weitere Entwicklung im Bereich hyperreales Klavier.
Das Abschlusskonzert mit dem DSO: Hirsch, Odeh-Tamini, Czernowin
Tief im Westen sagt das Deutsche Symphonie-Orchester „Ciao, ciao, bella“ zu Ultraschall, nämlich im Großen Saal des Berliner Rundfunkhauses.
Zu Beginn die Uraufführung …irgendwie eine Art Erzählung… (2011) des 2017 gestorbenen Michael Hirsch. Wo man auch hinhört, das Stück ist eine freundliche Angelegenheit, erzählerisch vielsträngig, gewissermaßen multiperspektivisch angelegt, neugierig bebildert, das Produkt eines offenen, warmen Geistes.
Dann kommt Rituale (2008), komponiert hat es Samir Odeh-Tamimi, der das Werk vollpackt mit Spannung und es ideell in der arabischen Sufi-Welt verankert. Spiel- und werktechnisch schlägt sich das in nervösen Tremoli und kreisenden Formverläufen nieder. Wenn Rituale ekstatisch ist, dann huldigt es einer menschenfreundlichen Ekstase. Nicht umsonst schwirren Schwärme von nervösen Minimotiven umher, grüßen sinnliche Ausbrüche, schieben sich sonor kreischende Blechchöre ins Blickfeld. Rituale gefällt mir besser als die Kammermusikwerke Odeh-Tamimis, denen ich auf Ultraschall nie viel abgewinnen konnte.
Hauptwerk des Abends ist Guardian (2017). Chaya Czernowin setzt ihr Werk der leisen Erschütterungen fort. Alles fließt, alles horcht. Klangfarbentriller der Bläser. Tonhöhen wandern in weiten Bögen. Statt griffiger Konturen herrschen weich ausgeleuchtete Klangzonen. Der Strich der Cellistin Séverine Ballon passt sich dem mit flüsterleisem Streichen ein, kann aber auch von harziger Spröde sein. Ballon spielt kurvig vibrierende Achterbahn-Glissandi. Plötzlich Bläserglissandi, Trommelwirbel. Aufgeraute Gesten. Guardian ist eine Reise durch die Musik, irreal und seltsam vertraut. Nicht alles ist neu an dieser Art Klangerforschungsästhetik, aber Czernowin setzt sie so subtil um, dass Zuhören großen Spaß macht. Eine Kadenz wird, da ist Czernowin Traditionalistin, am Ende des Werks eingeschoben. Ein schönes, ernstes Werk. Simone Young, die man bislang nicht als Neue-Musik-Dirigentin kannte, dirigiert sachdienlich und leidenschaftlich.
Weitere Kritiken: Hundert11s Bericht über die letzten 3 Ultraschall-Tage. Der Tagessspiegel mit „Die verlorene Unschuld der Harfen„. Sowie meine Berichte zu Samstag, Freitag und das Eröffnungskonzert am Mittwoch.
Ultraschall wird im Kulturradio und DLF Kultur umfassend dokumentiert. Die Sendetermine hier nachlesen.
Interessant ist auch immer die Perspektive der Ultraschall-Reporter, zuletzt von Kristina Vasilevskaja und Jonas Roth.