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Simon Rattle biegt als Philharmoniker-Chef auf die Zielgerade ein.
Ein kurzer Überblick über Rattles Zielgerade: Nach dem sakral überwölbten Parsifal folgt Schumanns sanftes Oratorium Das Paradies und die Peri, sodann ein Kombi-Abend mit Bernstein, Korngold und zeitgenössischem Kleingemüse sowie Mahlers 6., nebst zweier als Vorbereitung zur letzten Tour dazwischengeschobenen Einzelkonzerte (Bruckner 9., Lutosławski 3., Brahms 1., Widmann, Abrahamsen). Das war’s dann.
Nun also Wagners Parsifal, den die Berliner Philharmoniker konzertant abgespeckt aus Baden-Baden mitbringen, ihrer fernen, intensiv beschallten Osterresidenz.
Erwähnt sei es, generell tut die Konzertfassung keiner Oper gut. Konzertant heißt beim „Bühnenweihfestspiel“ Parsifal Steigerung des Oratoriumsaspekts und Schwächung des Dramas, wobei sich letzteres von der Bühne in die Kehlen und Resonanzkörper verlagert. Ein konzertanter Parsifal ist so eher Weihfest als Bühnenspiel. Und entzieht dem verschlossenen Spätwerk die dringend benötigte Deutung. Adieu, Bedeutungsebenen, adieu, heikle Erlösungsthematik, willkommen, reine Musik. Doch gilt es zu akzeptieren, dass konzertante Opernaufführungen ein eigenes, jüngst auch von Deutscher Oper (L’Arlesiana) und RSB (Wagner-Zyklus) erfolgreich beackerters Subgenre mit ganz eigener Dramaturgie sind.
Es singt ein vielfach Wagner-erfahrenes Sängerensemble.
Franz-Josef Selig präsentiert einen väterlich noblen Gurnemanz voller vokaler Würde. Er singt einen sorgfältigen, im Piano weich timbrierten, im Forte bisweilen trockenen, doch ungemein sprachgewandten Gralsritter. Seligs Ausdruck ist mild bis zur Bedächtigkeit, ja, wird sogar bis zum Betulichen herabgedrückt. Ich wünschte mir da mehr ruhige Kantabilität, mehr dramatisches Profil. Kurz, der Zugriff auf Text und Subtext könnte mehr Schwung vertragen, zumal Seligs Mezzavoce nicht recht klangreich ist (das Schneegefieder dunkel befleckt? Gebrochen das Aug‘).
Als in feinen Zwirn gehüllte Kugel entspricht Stuart Skelton kaum dem Idealbild des Parsifal. Doch bei konzertanten Aufführungen ist Phantasie gefragt, und immerhin schaut Skelton in der Manier eines aggressiven Teddys auf Kundry, als die ihm den Tod der Mutter kündet. Auch Skeltons zerfurchte Stirn während der Selbstbezichtigungen in Aufzug 2 und 3 ist eines zerknirschten Büßers würdig. Singen tut Skelton einen feinsinnigen, vokal untadeligen Toren. Wer über das farblich begrenzte Timbre und den Vortrag, der die letzte expressive Komponente schuldig bleibt, hinweghören kann, findet in der schmalen, festen, hellen und durchschlagsstarken Männerstimme, deren untere Lage dunkel schimmern kann, eine ideale Parsifalverkörperung. Die Deklamation ist lebendig, der Vortrag engagiert. Deutsch und Textverständlichkeit sind beachtlich, Stuart Skelton singt immer, schreit nie.
Als Kundry ist Nina Stemme zu hören. Die Schwedin trägt Ringellöckchen an den Schläfen wie einst Clara Schumann. Schreien und Stöhnen lässt sie sich trotz Konzertform nicht nehmen. Sie tut es mit gramzerfurchtem Gesicht. Stemme agiert klug und emphatisch, ihre Stimme klingt dunkler und belegter als vor Wochenfrist in der Staatsoper gehört. Die Spitzentöne kommen mühevoller, die ekstatischen Aufgipfelungen (schreien, wüten, toben, rasen) angespannter. Doch was Stemmes große Stimme an Farben und Ausdruck besitzt, was sie an gedecktem Pathos und Pracht einbringt, das gibt ihrer Kundry eine dunkel lockende Intensität. Gut.
In punkto Textdeutlichkeit ist Gerald Finley Selig gleichzustellen (Frau Stemme hingegen verschluckt das ein oder andere „s“). Der Brite schenkt dem moribunden Amfortas sein nuanciertes Singen. Da hört man betörend Schönes, etwa bei Waldes Morgenpracht. Aber die wühlenden Schmerzensakzente? Nimmt man ihm nicht ganz ab, bzw. sind nicht da. Wie ein zu Tode Verletzter klingt der Mann nicht. Eher wie ein zu Todverletztheit wild Entschlossener, der so preziös larmoyant singt, dass selbst die Gralsritter die Geduld mit ihm verlieren (Enthülle den Gral! Walte des Amtes!). Finley liefert ein manieriert-übernuanciertes, doch schlussendlich ungemein faszinierendes Rollenporträt, das eher was für Feinschmecker sein dürfte, für solche, die mit den Ohren schmecken und denen wuchtiges Drama wurscht ist und sich stattdessen an liedhafter Wortziselierung erfreuen können.
Als zauberkundiger Klingsor erfüllt Evgenij Nikitin das Podium mit dramatischer Präsenz und wirkt geradezu gefährlich. Die Deklamation ist energisch (auf der Zinnäää), die Artikulation ist ein bisserl unverbindlich (will sagen, Nikitin gibt den gesungenen Wörtern nur wenig zusätzliche Bedeutung durch spezifische Kolorierung), was auf Dauer doch ein Nachteil ist. Dem todgezeichneten Titurel schenkt Reinhard Hagen grimmige Würde. Die Blumenmädchen imponieren mit schimmerndem, klarem, punktgenauem Schönklang und einfallsreichen Roben (rabenschwarze Tüllwolke vorm Dekolleté!). Die Damen rechts nehmen „Blumenmädchen“ wörtlich und hüllen sich in blumengemusterte Kleider, deren Farben Pfefferminzblau und Erdbeereisrot einschließen.
Die Berliner Philharmoniker spielen gepflegt und sauber. Simon Rattle lässt sie hauchfeine Geigenfäden spinnen, dazu packen die Musiker Streicherglanz und satte Posaunenwucht aus. Aber hat das Biss? Das Vorspiel zum 1. Aufzug wirkt knochenlos, das Glaubensthema erklingt arg am Taktschlag ausgerichtet. Das Parsifalpotenzial der Berliner taucht zum ersten Mal am Ausgang des Vorspiels auf, als das Orchester in den letzten Takten der Bühnenfassung sanft verglüht und die Geigen bis zum viergestrichenen Es hinaufkrabbeln. Das Vorspiel zum zweiten Aufzug ist überraschend lebhaft durchpulst, das zum dritten butterweich und darüber hinaus mild vergrämt. Gut finde ich Rattles Zugang erst im dritten Aufzug. Da ist dann der vielfach gebrochene, leuchtende Klang, und die großen Formbögen schließen sich zu einer zart verschwimmenden, ewig im Musikaugenblick verweilenden Gegenwart.
Der Rundfunkchor Berlin singt die abscheulich schönen Chöre mit fast erlöschender Zartheit, so als hätte Rattle quasi per päpstlicher Bulle nazarenisch milden Männergesang angeordnet. Mehr männliche Markanz hätte dem Rundfunkchor vielleicht gut getan, wo die Intonation doch so bombensicher, die Dynamik schier endlos staffelbar und die Tonreinheit traumhaft sind.
Herrlich! Ich schätze Ihre humorvollen Beschreibungen sehr.
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Dem schließe ich mich an. Ja, ich glaube sogar, diesen Parsifal mitzuerleben hätte mir nicht so viel Freude gemacht wie hier dies über ihn zu lesen.
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Antwort an beide:
Ja, die Tatsache, dass ein Rattle-Abend über weite Strecken nicht gefällt, war ein vergleichsweise neues Erlebnis. Beim letzten Mal erlebte ich das vor einigen Jahren bei Schumanns Peri. Ich rate deswegen dringend von einem Besuch der Peri (im Mai) ab. Man langweilt sich zu Tode. Dafür gehe ich dann zwei Mal in Mahlers 6.
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Danke für den guten Rat zur rechten Zeit, ich hatte gerade über die Peri nachgedacht – auch um diese Bildungslücke (oder zumindest Kenntnislücke) zu schließen.
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Ich war am Sonntag Abend dort. Es war über weite Strecken alles sehr gut, aber irgendwie haben die berühmten paar Prozent zur Großartigkeit gefehlt, wie leider meistens bei Rattle. Sein Tristan hat mich auch nicht wirklich überzeugt, sein Beethoven auch nicht.
Wirklich überragend fantastisch war Mahler 9 mit Haitink im November, ich hatte den ganzen 4.Satz die Tränen am Anschlag…..
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