Das Arditti Quartet spielt Livre pour quatuor von Pierre Boulez.

Arditti Quartet Berlin Boulez Livre pour quatuorKurz die Eckdaten: Boulez‘ einziges Streichquartett entsteht im Wesentlichen 1948/49. Satz I und II werden 1955 in Donaueschingen uraufgeführt. 1968 entsteht eine Version dieser beiden Sätze für Orchester (Livre pour cordes). Die fünfsätzige Gesamtaufführung (ohne IV) erfolgt 1985 durch das Arditti Quartet. 2012 redigiert Boulez das Werk. Der nach Boulez‘ Tod von Philippe Manoury und Jean-Louis Leleu vollendete Abschnitt IV wird im heutigen Konzert im Rahmen der erstmaligen Aufführung der sechssätzigen Fassung des Streichquartetts uraufgeführt.

Livre pour quatuor gibt sich in Textur und Gestik äußerst abstrakt. Der Ausdruck bleibt weitgehend neutral, die Wirkung ist hochgradig unsinnlich. Formabschnitte innerhalb der Sätze oder Chapitres lassen sich allenfalls erahnen. Die Spieltechnik setzt coll’arco, pizzicato, col legno und sul ponticello gleichwertig nebeneinander.

Erst nach und nach lassen sich kürzeste Motive identifizieren, Felder ähnlicher Farbigkeit (oder Luftigkeit) ausmachen. Insgesamt bleiben Dynamik, Dichte, Tempo und Textur über alle Sätze ähnlich. Livre pour quatuor ist ein raffiniertes, rhythmisch verästeltes, hyperkomplex organisiertes und oftmals verblüffend aseptisches Universum. Verglichen mit ähnlichen Schöpfungen der deutschen E-Musik-Recken Zimmermann und Rihm ist Boulez‘ Streichquartett in einem keimfreien Reinraum-Musik-Labor strengster Observanz angesiedelt.

Die Sätze oder Chapitres liegen jeweils anders im Ohr. Ia ist lyrisch, wirkt durch die gelockerte Struktur aus punkthaft gesetzten Klängen, Tremoloflächen und kurzen Haltetönen. II ist lebhafter, schön die Pizzicato-Stelle, einzelne isolierte Akzente stehen gegen feine, fadenhaft interagierende Linien, der Schluss ist kurz und energisch. V hat beinah zärtlichen Ton, steigert sich unversehens zu kurzen Ausbrüchen und endet mit nachtschwarzem Cellostrich von Lucas Fels. VI wirkt versponnen und luftig und erinnert entfernt an die beiden Nachtmusiken aus Mahlers 7. Sinfonie.

Zwischen IIIc und V erklingt also das von Manoury und Leleu rekonstruierte Chapitre IV. Es fällt ab. Der Zeitverlauf wirkt simpel chronologisch (eine Enttäuschung), die fließende Kontinuität wirkt gebrochen, punktuelle Akzente dominieren als isolierte Ereignisse. Das Timbre scheint plötzlich kalt. Man kapiert da mit einem Schlag, was Boulez von Debussy hatte, Klarheit, Kolorismus, Fiebrigkeit, Strukturbesessenheit. Bei Manoury sind Pizzicati, Tremoli und Intervallsprünge nun mit einem Mal nicht mehr ereignisreiche Rhythmus -und Klangzellen, die vielfältig in das umgebende Gewebe ausstrahlen. Der mehrdimensionale Klangraum, von dem Klaus Billing in Bezug auf Boulez sprach, wird nicht realisiert. Es dürfte das letzte Wort über Livre pour quatuor noch nicht gesprochen sein.

Das Arditti Quartet verstärkt die von Boulez gewollte Abstraktion durch scharfe Zeichnung und genaueste Ausführung. Die Quartettvereinigung ist immer noch ein Wunder an Gruppenkoordination und sicherster Artikulation. Und natürlich an gedanklicher Schärfe, auch wenn das eine oder andere Gesicht bei den Ardittis neu wirkt. Insbesondere Ashot Sarkissjan bringt optischen Pepp in die Männerrunde, die wie eh und je so wirkt, als träfen sich vier Musiker Sonntagnachmittags vor dem gemeinsamen Rotweintrinken noch mal schnell zum Boulez-Spielen. Doch Irvine Ardittis sehnige, inzwischen leicht gebeugte Gestalt unter dem Rattle’schen Lockenkopf überragt an Ausstrahlung noch alle.


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Sachgemäß“ (Hundert11 – Konzertgänger in Berlin)

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