Das gesamte Werk für Soloklavier von Pierre Boulez lässt sich in einem einzigen Klavierabend unterbringen. Genau dies tut der Pianist und Dirigent Michael Wendeberg im Pierre Boulez Saal.
Das ausschließlich Boulez gewidmete Klavierrecital gibt einen Überblick über wichtige Stationen der Vierziger und Fünfziger Jahre, und Incises erlaubt einen Ausblick in das siebte Lebensjahrzehnt des Komponisten.
Douze Notations besteht aus zwölf kurzen Stücken, die sich in Tempo, Faktur und Inhalt unterscheiden. In II dominieren energische Glissandi, IV charakterisiert ein treibendes Sechzehntelmotiv der linken Hand, in VII kommuniziert eine gelöste Faktur mit einem mottohaft kurzen Forte-Motiv, dunkel und weich dann IX, das von geheimnisvollen ppp-Repetitionen unterbrochen wird. Die Notations in der Fassung für Orchester hört man inzwischen regelmäßig, zuletzt u. a. unter Rattle (Berliner) und Barenboim (Staatskapelle).
Die Première Sonate (1946/49) besteht aus zwei Sätzen. Ihre modellhafte, fast klassizistische Klarheit verblüfft auch heutzutage. Der erste Satz gibt sich spröde. Gerade dies führt zu magischer Schönheit. Der zweite Satz ist von größerer Zielgerichtetheit, fließt, steigert sich teilweise zu Eile, ohne dass eine überragende Klarheit jemals gefährdet wäre.
Die Deuxième Sonate ist leidenschaftlicher, komplexer, dichter. Trotz der drängenden Verläufe und größeren Dichte, die sich bis zur Wucht steigern können, ist auch dieser Satz von überwältigender Klarheit. Die Viertel der abschließenden fff-Figur stehen dem Schlussschlag der Carmen-Ouvertüre an despotischer Gewalt in nichts nach. Im zweiten Satz ist der Einfluss Debussys erneut hörbar. Ich finde den Satz schwierig. Klaus Billing nennt ihn indes großartig (in der wie eh und je lesenswerten Einführung in Reclams Klaviermusikführer). Das frei und selbstherrlich hin- und herwogende Finale steigert sich zu heftigem Vorwärtsstürmen.
Michael Wendeberg, den ich zuletzt bei Ultraschall Berlin mit dem Ensemble ascolta gehört habe, bewältigt die mitunter haarsträubenden Herausforderungen mit Bravour. Klarheit, ein wenn nötig stählerner Anschlag, Reaktionsschnelligkeit für die riesigen Intervallsprünge und präzise Leidenschaft stehen für eine adäquate Interpretation ein.
Wenn die Troisième Sonate gegenüber der Wildheit der 2. zu konzentrierterem Ausdruck zurückkehrt, so gewinnt sie an Freiheit und Flexibilität hinsichtlich Ausführung und Ablauf. Es war Boulez egal, ob man sie von vorne nach hinten, von oben nach unten oder von hinten nach vorne spielt (zugespitzt ausgedrückt). Taktstriche fehlen. Entsprechend zur 1. kehrt Boulez in der 3. Sonate zur Zweisätzigkeit zurück, wenn auch ungewollt, geplant waren fünf Sätze, nur zwei wurden veröffentlicht. An Durchsichtigkeit ist das Werk kaum zu überbieten. Etwas Abgeklärtes, Schlackenloses, Verknapptes liegt über den kurzen Abschnitten. Wie die Mehrzahl der Interpreten setzt Wendeberg Commentaire, den vielleicht komplexesten Abschnitt, an den Schluss von Trope.
Incises, in den Jahren um die Jahrtausendwende entstanden, wirkt gelöster, heller und unendlich raffiniert. Virtuoses, ja Dekoratives bricht sich Bahn. Tremoli und Arpeggien bereichern das Geschehen. Das Prestissimo ist zauberhaft. Die zwischengeschalteten ruhigen Abschnitte wirken als Kontraste. Die Coda lässt das Stück in unerwartetem Fatalismus enden.
Die Zugabe Une page d’éphéméride vervollständigt die Wiedergabe des gesamten Œuvres von Pierre Boulez für Soloklavier nun wirklich. Das entzückende Stück schließt sich stilistisch an Incises an.
Applaus. Ein hörenswerter, unendlich raffinierter Abend.