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Simon Rattle kehrt zu den Slawischen Tänzen op. 72 von Antonín Dvořák zurück.

Der strukturelle Reichtum verblüfft bei neuerlichem Hören aufs Neue. Simon Rattle betrachtet die Slawischen Tänze offenbar als Datenspeicher für 1001 Formen des Tänzerischen. Das Orchester

übertrifft sich selbst, was Spielfreude und Impulsdichte angeht. Kein Wunder, wenn die melodischen Entwicklungen so hitzig sind, die Formen so prozessual aufgeladen, dass Hören zu lustvoller Schwerstarbeit wird. So gehört, sind die Slawischen Tänze nicht leckerer Appetizer, sondern tiefgründiges Hauptwerk.

Die Streicher wagen fast amorphe Weichheit (selten beim BPO so zu hören), aus den raffinierten Abphrasierungen blitzt immer wieder Melancholie. Tempomodifikationen erhalten prozessualen Drive, bekommen etwas ungemein Sprechendes, und das berühmte tschechische Temperament hat auf einmal verblüffend viele Gesichter.

Béla Bartóks Klavierkonzert Nr. 1.

Daniel Barenboim spielt. Er spielt Bartóks Konzerterstling mit schwerem Konzertton.

Man muss sich erst mal reinhören.

Barenboims Zugriff mutet impressionistisch, altmeisterlich an. Barenboim setzt wie Rembrandt Goldton an Goldton. Getümmel von Tontrauben wollen vom Hörer erst einmal durchdrungen sein. Und nicht selten fühlt sich der geneigte Zuhörer bevormundet, wenn der Solist jeden Tastenschlag auf Teufel komm raus zu einem Klangereignis macht. Barenboims Spiel zielte nie auf Brillanz, Pollinis (einstige, muss man inzwischen sagen) Ostinato-Präzision war nie Barenboims Ding. Nicht Härtung der musikalischen Struktur steht ganz oben auf der heutigen To-Do-Liste, sondern deren Um- und Einschmelzen in impulsgesteuertes, quasi-improvisatorisches Musizieren. Barenboims im Kern rhapsodisches Klavierspiel mag bei Bartók denkbar unmodern scheinen. Man kennt das Selbstherrliche von Barenboims Akzentsetzungen. Deren Kehrseite ist ein eklatanter Mangel an klarer Zeichnung. Andererseits ist die sich gegen rhythmisches Streamlining wehrende Lesart extrem aufschlussreich. Mit einem Wort, man hört ein Klavierkonzert Nr. 1 von so wohl selten zu hörender Üppigkeit und Plastik. Außerdem ist die Interpretation einzigartig gestaltenreich.

Einzelne Beobachtungen: Beim zweiten Thema (Satz 1) klingt der Anschlag doch sehr schwerfällig. In der Durchführung (ebenfalls Satz 1) reiht der Pianist Rubato an Rubato.

Rattle passt sich Barenboims moderatem Tempo an und lässt den Berliner Philharmonikern Raum für das Entwickeln von Farben. Und siehe da. Manche Bläseraktionen zeigen sich von Barenboims Wildheit zu kecker Beschwingtheit animiert (Eingang Durchführung!). Und im Andante wirken selbst sparsame Orchestergesten ungewohnt hochdramatisch.

Die Zugabe stammt aus den Préludes von Claude Debussy.

Zum Schluss erklingt die erstaunliche, klar disponierte Sinfonietta von Leoš Janáček. Es gibt kaum Musik, die freier wirkt und zugleich so konzentriert. Die rhythmische Vitalität ist enorm. Glorios ungelenk wirken die kantigen Fanfaren. Deren Holzschnitthaftes, in denen Sprachähnlich-Expressives, wie oft bei Janáček, eingeflossen sein mag, löst Rattle in Fließen. Von den Philharmonikern kommen intensive Streicher und mitreißende Bläser.

Die Konzerteinführung von Kerstin Schüssler-Bach insbesondere zu Janáček ist lesenswert.

Weitere Konzertbesprechung:

Selbstverständlich brillant“ (Hundert11 – Konzertgänger in Berlin)