Urfassung!

Von Fidelio bis Tannhäuser, von Simon Boccanegra bis Don Carlo kennt man’s: Fassung eins endete in einem Fiasko oder genügte späteren Ansprüchen nicht mehr. Eine neue Fassung musste her. Und wenn es das Schicksal ganz schlecht meinte, reichte auch die nicht. Siehe Fidelio. Überraschung! Auch Madama Butterfly litt unter einer fiaskösen Uraufführung. Und als die schon lange vergessen war, frickelte Puccini immer wieder an der „Butterfly“ herum. So gibt es nicht nur zwei, nicht nur drei, nein, es gibt viele Fassungen von Madama Butterfly. Die letzte ist von 1920. Da doktorte Schönberg schon an der „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ herum. 

Basta, ich will die Urfassung, sagte sich La Scala-Boss Riccardo Chailly. Und zwar zur Inaugurazione am 7. 12. Also spielt er in Mailand jetzt die Uraufführungsfassung vom 17. 2. 1904. Die wird nämlich so gut wie nie gespielt.

Man hört 1ooo Takte mehr als sonst, aber einen Akt weniger. Atto 2 und Atto 3 werden in einem Rutsch gespielt. Richtig auffallen tun nur das Hochzeitslied des Goro, das neu ist, und das fehlende „Addio fiorito asil“ Pinkertons, das ersatzlos wegfällt.

Regie führt Alvis Hermanis.

Man kann es bei Alvis Hermanis nie sagen. Fällt ihm einfach nichts ein, das aber auf hinreißend virtuose Weise? Oder hat er es treffsicher auf eine konservative Gediegenheit abgesehen, das aber auf eine bemerkenswert geistlose Art? In Mailand ist der erste Akt geradezu eine Modeschau für japanische Kostüme, es kommen japanische Toupets in allen Ausführungen zum Einsatz. Der zweite Akt zeigt einen jener pingeligstaubtrockenen Innenräume, die Hermanis liebt. Akt 3 feiert die japanische Kirschblüte in erlesenen Farbkombis. Blöd, dass der norwegische lettische Regisseur darüber vergisst, etwas für seine Sängerprotagonisten zu tun.

Er vertraut einem Gestenrepertoire, das vorgibt zum Innersten Puccinis vorzudringen: zu Schmerz, Tragödie und Tod. Doch dieses Repertoire ist eher altbacken. Kein Wunder, dass das Zusammenspiel von einem Bühnenbild, das im eigenen Deko-Saft schmort, und stilisierter Nō-Gestik nicht funktioniert. Die Folge ist ein reichlich klamottig wirkender Output ohne substantiellen Input.

Wollige Lockenpracht: die Sänger Maria José Siri und Bryan Hymel

Als Frau Schmetterling gibt Maria José Siri im ersten Akt den putzig verträumten Teenie, das Antlitz kalkweiß, die Armhaltung Tai-Chi-inspiriert. Dazu verordnet Regisseur Hermanis drollige Kindchen-Allüren. Als betrogene Frau trägt Siri im zweiten Akt dann hochgeschlossenes Fin-de-siècle-Kleid. Die Regie will es so. Dabei stellt Maria José Siri eine sehr sorgfältig gesungene Butterfly auf die Bühne und findet in „Un bel dì“ zu einer überzeugenden emotionalen Darstellung. Mehr als Tonschönheit gilt bei Siri das durchdringende Timbre, wenn auch Diktion plastischer, die Phrasierung expansiver und die Parlando-Partien temperamentvoller sein könnten. Das obere Register ist eindeutig das interessantere. Die Tonhöhe scheint mir nicht immer makellos getroffen zu sein. Auch Farbe und Ausdruck könnten variabler sein. Das Blumenduett mit Suzuki habe ich schon genauer und berückender gehört.

Als Pinkerton ist der Shooting-Star der Tenorszene, der US-Amerikaner Bryan Hymel zu erleben, ein in der Tat außergewöhnliches Vokaltalent von sehr heller Tenorstimme und bärenhaft unbeholfenem Auftreten. Hymel ist ein extrem höhensicherer Vertreter der Tenorspezies, zwar nicht sehr geschmeidig, was die Stimmführung angeht, aber der Schmelz in der ist Höhe da, wobei erwähnt werden sollte, dass Hymels wollige Lockenpracht eher in die wilden Prärien des Mittleren Westens passt als auf ein Schiff der feschen US Navy. Vergessen wir auch, dass das eine oder andere („Che Pena“) an eine ausgequetschte Zahnpastatube erinnert.

Der gegen so viel Navy-Ignoranz machtlose Sharpless tritt stilsicher mit Vatermörder auf. Carlos Álvarez gibt ihm in souveräner Weise einen männlich menschlichen Ausdruck. Suzuki, die das böse Ende schon kommen sieht, wird von Annalisa Stroppa gesungen. Stroppas dunkler Mezzo, ein edler vino tinto, kommt in allen Lagen klangvoll zur Geltung. Auch mit ihr meint es die Regie zu gut: Stroppa leidet mit wie ein Hund, während Butterfly heillos verblendet ihr „Un bel dì, vedremo“ singt. Ich warte nur darauf, dass Stroppa anfängt, an der Lehne ihres Stuhls zu nagen. Mensch, Alvis!

Chailly: Grip, Farbe, Timbre

Auch in der zweiten Reihe singen kundige Kehlen. Der umtriebig watschelnde Goro wird von Carlo Bosi verkörpert. Der heiratswillige Palastbesitzer Yamadori (Costantino Finucci) wird von Butterfly schnöde abgewiesen, obwohl Finucci vokal ungemein rüstig klingt. Der drohende Gefährlichkeit ausstrahlende Bonzo von Abramo Rosalen überzeugt mit kraftvollen Basstönen. Weitere Rollen besetzen die Bässe Leonardo Galeazzi (Yakusidé) und Gabriele Sagona (Commissario imperiale). Auch Romano Dal Zovo, Marzia Castellini, Sopranistin Maria Miccoli und Sopranistin Roberta Salvati machen dem Teatro alla Scala singend Ehre.

Das Orchester des Teatro alla Scala klingt frisch wie am ersten Tag. Scala-Chef Riccardo Chailly leitet seine zweite Inaugurazione. Letztes Jahr war ja Verdis frühes Meisterwerk Giovanna D’Arco, u.a. mit Anna Netrebko, dran. Es ist ein guter Abend. Die Streicher haben Grip, Farbe, Timbre. Auch die Holzbläser agieren gefühlvoll. Vorbildlich Chaillys Gefühl für Raum und Disposition. Chailly strafft in den rezitativischen Ensembles, wird breiter in den arios bestimmten Szenen. Der den dritten Akt einleitende Chor der Marinai ist mir aber zu kantenlos. Und im tragischen dritten Akt ist mir Chailly manchmal zu genau, zu gehemmt. Es schleicht sich eine Unsinnlichkeit ins Dirigat, doch freilich haben auf Chaillys Niveau auch die herben Stockungen ihren Reiz und Sinn.