
Marguerite vor Abendmahlsszene: Dumm gelaufen, wenn man sich auf der falschen Seite des Tisches befindet / Foto: Monika Rittershaus
Ich höre die Wiederaufnahme von Karsten Wiegands Inszenierung der Oper Faust. Komponist: Charles Gounod.
Die Oper ist ja angestaubt vom Lauf der Zeit. Sie war hochberühmt. Wird aber (heute) kaum gespielt. Herablassung sprach dem Werk in Deutschland von je den Wert ab („Schändung aus dem Geiste der Dummheit“, Adorno, 1932). Ein Ex-Klassiker als Rarität. Ein fremdgewordenes Schönheitswerk.
Erstens. Die Oper ist durchgängig lyrisch gestimmt. Seelentöne. Butterzarte Tragik. Drei Stunden lang. Zweitens. Derbe Komödie überlagert sich mit Sentiment. Stilkreuzungen. Wie in Verdis Maskenball übrigens (selbes Uraufführungsjahr, 1859). Drittens. Es gibt Altmodisches: Soldatenchöre, etc.
Hauptcharakteristikum der Regie von Karsten Wiegand ist Kühle. Das Bühnenbild (Bärbl Hohmann) wirkt leergeblasen wie ein Kühlschrank nach der Grundreinigung (Ausnahme: Marguerites kindersüßes Kämmerchen). Die Kreativität der Personenführung bewegt sich an der Null-Grad-Grenze (Ausnahme: Marguerite). Warum verdonnert Wiegand Pape nur dazu, ständig am Bühnenrand rumzulümmeln? Die einfallslosen Soldatenchöre machen mich ratlos. Aber hallo! Es gibt gute Seiten. Wiegand bringt uns die Titelheldin Marguerite nahe. Immer mehr im Laufe der Oper und besonders im Schlussbild.
Krassimira Stojanowa sagt ab. Jetzt singt Tatiana Lisnic Fausts Wunschmaid. Sie ist guter Ersatz. Sie singt eine kindlich amouröse Marguerite mit einschmeichelnder Sinnlichkeit und überzeugenden Tönen des Kummers. Einzig „Il était un roi de Thulé“ fehlt die vokale Ruhe. Aber Frau Lisnic hat vokale Phantasie und den sehnenden Herzenston, und für die Air des bijoux steht ihr die nötige Beweglichkeit zur Verfügung. Nebenbemerkung: Nicht jede Sopranistin muss Christine-Schäfer’sche Hagerkeit mitbringen. Ein charakteristisches Timbre in der Höhe würde den Wert der Stimme bedeutend erhöhen.
Gut ist die Besetzung des jungen Faust mit Pavol Breslik. Ein italienisierender Heldentenor tut hier nicht Not. Bresliks feine Linienführung, an Mozart geschult, sein heller, mit schönem mittlerem Register ausgestatteter Tenor gefallen durchweg. Breslik singt ein suggestiv vibrierendes „Salut! Demeure chaste et pure“. Es ist eine sehr hörenswerte Wiedergabe, ich höre fein austarierte dynamische Akzente, eine nuancierte vokale Linie. Dass er das verfluchte hohe C mit klanglich reduzierter Kopfstimme singt, geschenkt.
Der Méphistophélès ist bei René Pape in besten Händen. Pape feuert aus vollen Rohren baritonale Breitseiten von erlesener Wucht auf die Zuhörerschaft ab. Die feinkörnige Stimmtextur besticht. Fast entsteht der Eindruck, der Gounod falle Pape zu leicht. Papes imposante Stimme schwebt dann ein paar Millimeter über dem Text. Der reichen Breite, dem sattem Strom seiner Stimme bleiben die ultimativen idiomatischen Finessen des Französischen womöglich verschlossen. Das balsamische „Reines de beauté de l’antiquité“ (V, 2) in der Walpurgisnacht indes – übrigens ein Stück von außerordentlicher kompositorischer Rassigkeit, der Damenchor exzellent – dürfte zu den besten Pape-Momenten ever gehören – wenn auch Papes Gurnemanz und sein Philipp II (Don Carlo) noch ein klitzekleines Stückerl höher anzusiedeln sind.
Marina Prudenskaja steckt in schlecht sitzender Hose und singt mit Feuer-Mezzo einen hoffnungslos verliebten Siébel. Alfredo Daza gibt dem Valentin virile Präsenz und herben Charakter, so dass man aufrichtig bedauern muss, dass Daza lange vor dem Ende der Oper den Bühnentod stirbt. Stephan Rügamer – glänzt nicht als alter Faust. Herr Rügamer wird mir zustimmen, wenn ich sage, dass sein Meistersinger-David eine andere Hausnummer war. Constance Heller ist Marthe Schwerdtlein.
Zu bedauern ist, dass französische Stimmen rundweg fehlen. Sämtlichen Akteuren hört man zwar an, dass sie nicht an der Avenue des Champs-Élysées wohnen. Aber alle klingen wenigstens so, als könnten sie den Namen ohne allzu viele Fehler buchstabieren.
Simone Young fügt sich an der Staatsoper in die Tradition bedeutender Gastdirigenten. Für Gounod findet Young sowohl Klarheit und Sanftmut. Die Tanzmotive – anmutig. Das lyrische Gefühl – bezaubernd. Young hat das Feeling für Timbre und Klang. Das Orchester formt Wellen und Bögen in diskreten Linien. Horn, Klarinette, Flöte haben einnehmende Solo-Momente. Die orgelgrundierte Sakralsphäre der Kirchenszenen scheint uns heute aufgepfropft. Akzeptieren wir sie, wie sie ist. Einziger Fehler: Das Orchester inklusive Solovioline ist viel zu laut bei „Salut! Demeure chaste et pure“.
Dank Simone Young und einem auch ohne Stojanowa sehr guten Ensemble der Sängersolisten sehr hörenswert.
Ich finde, man muss Gounods „Faust“ einfach mögen, schon um Adorno eins auszuwischen. Ich habe im Sommer die recht opulente Neuinszenierung in der Deutschen Oper gesehen (mit Stoyanova) und auch in meinem Blögchen drüber geschrieben, wenn auch nicht so profund wie Sie. (https://hundert11.wordpress.com/2015/07/06/5-juli-2015-lebenssuchtig-gounods-faust-in-der-deutschen-oper/)
Off topic: Als überzeugter Feminist freut es mich, immer öfter Frauen am Dirigentenpult zu sehen. Frau Young hat sich ja bisher in Berlin nicht oft blicken lassen, aber demnächst kommt sie häufiger.
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Sehe es gerade, Young im Februar beim RSB, Zarathustra und Don Juan und Lars Vogt. Na mal sehen.
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Tolle Oper, tolle Sänger. Die Oper ist besonders genialer Schmarrn. Absolut hörenswert. Breslik ist ein Traum trotz hohem C, für das lyrische Tenöre halt auch nicht geschaffen wurden. Ja, Breslik ist richtige Besetzung. Aber selbst an der Opéra Garnier wurde Faust letztens mit Alagna besetzt. Was will man da sagen?? Absolut berührend, wie Breslik die melodische Wendung aus Salut demeure am Schluss des Liebesduetts wieder aufnimmmt.
Lisic doch auch ganz apart, wa?
Der größte Inszenierungsquark wurde von Wiegand anlässlich der ersten Wiederaufnahme schon ausgemerzt. Die Premiere 2009 war aufgrund des bühnenfüllenden Gerüsts berüchtigt. Die jetztige Besetzung trotz kränkelnder Stojanova deutlich besser als die Premierenbesetzung (Pape war außerdem indisponiert). Auch Young (viele Bravos) besser als Altinoglu. Good Job. Well done
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Lisnic ist eine viel lyrischere Margarete als Stoyanova, insofern für die Rolle vielleicht sogar passender. Eher Tpyus Micaela als Aida. Harmonierte stimmlich gut mit Breslik.
Prudenskaya viel zu laut. Da war Stephanie Lauricella an der DO besser. Und für den Valentin braucht es einen Schönsänger, und der ist Daza nun wahrlich nicht.
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Stimme bei Prudenskaja zu, auch wenn sie durchaus um Piano bemüht war. Aber über ihren sehr prägnanten Stimmklang war ich dennoch froh. Stimme auch bei Daza prinzipiell zu, aber er phrasierte ausnehmend schön und außerdem passt der Valentin sehr gut zu Dazas Höhe, anders als es beim Renato der Fall ist.
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Ich besuchte die Vorstellung am 23. 12. Es war ein glänzender Opernabend. Ihre negativen EIndrücke von Wiegands Inszenierung kann ich nur bedingt teilen.
Gewiss, vor der Pause gibt es Längen, und das ist nicht nur der Musik bzw. dem Libretto geschuldet, sondern teilweise auch der Inszenierung. Es liegt eben auch an der Oper. Dennoch – schön herausgearbeitet hat die Regie die Beziehungen zwischen Margerethe und der namenlosen Masse. Das führt zu gut getroffenen Bildern mit starker Aussage. Gegen Ende zu handelte es sich um einen fesselnden Abend, was auch den Sängern und Sängerinnen geschuldet war.
René Pape ist geradezu beängstigend souverän und entwickelt eine große Bühnenpräsenz, Tatjana Lisnic überzeugte mit warmem lyrischen Sopran, schönen Pianissimi und gutem Messa di voce und gefiel v.a. durch mitreißendes Spiel, Pavol Breslik fand ich in der Hauptarie – weiß grad‘ nicht wie sie heißt – zu leise, ansonsten aber zeigte der Tenor eine erstklassige Leistung, auch Alfredo Daza (großartiges Espressivo) und M. Prudenskaja (einprägsame Stimmfarbe) trugen zum Gelingen des Abends bei.
Eine Oper, für deren Wiederaufnahme man die Staatsoper beglückwünschen kann. Es müssen nicht immer Wagner und Verdi sein, um Oper aus dem 19. Jahrhundert zu genießen.
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3. Mal Faust. Lohnt sich voll.
Wie cool ist das denn? Pape und Breslik treten mit Weihnachtsmannmütze auf und tanzen beim Schlussapplaus von der Bühne.
S. Young bedankt sich von oben in den Graben hinein bei fast jeder Orchestergruppe einzeln. Sehr sympathisch. War auch klasse von ihr.
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Etwas mehr Schmelz hätte ich mir bei Breslik schon gewünscht, da mag er noch so genau singen. (Wie viele Korrektheit verträgt die Schönheit?)
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