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Sinfonie Nr. 8

Die Achte zählt zu den besten des Zyklus. Rattle stockt das Orchester auf im Vergleich zur Vierten. Die Vierte ist luftiger, die Achte massiver.

Erste Überraschung: Rattle lässt bei der Verblendung der Streicherlinien produktive Unschärfe zu. Das gab es schon bei der Vierten, aber heute Abend ist es noch hörbarer. In Verbindung mit dem hellen Klangbild der Achten schlägt sich dies in einer Art Nimbus-artigem Glanz beim Höreindruck nieder. Nach Rattles Tempo in einigen früheren Sinfonien (Bild: „Irre – Rattles Rekordjagd bei Beethoven“) ist hier das Beethoventempo „normal“, nur ein ganz bissl schneller als bei Bernstein und Karajan.

Zweite Überraschung: Im Hauptteil der Durchführung erlaubt sich Rattle eine kleine, feine dynamische Manipulation. Der Themenkopf wandert hier erst durch Celli und Bässe, dann sind die zweiten Geigen plus Klarinetten im Wechsel mit den restlichen Holzbläsern dran, dann Holzbläser plus erste Geigen (hier übrigens die schwungvolle Stelle, die visionär den Höhepunkt der Durchführung in Schumanns Zweiter vorwegzunehmen scheint) und DANN 16 Takte, in denen nur erste Geigen und Bässe den Themenkopf spielen. Und diese 16 Takte gliedert Rattle in vier Vierergruppen, die er jeweils deutlich dynamisch absetzt. Wow. Das habe ich noch nie so gehört. Das steht nicht in den Noten. Aber es ist sehr eindrucksvoll. Fantasielose Dirigenten dirigieren hier so, als sei Beethoven nach dem Höhepunkt die Inspiration ausgegangen.

Das Trio ist das gesungenste der Sinfonien, ein Melodie-Moment, der bleibt. Hallo, Beethoven, wie schön ist das denn? Zu Beginn des zweiten Trio-Teils, da wo traumhaft moduliert wird, klingt es wieder nach Schumann.

Sinfonie Nr. 6

Während des Konzertes grübele ich darüber nach, wo im zweiten Satz und bei welchen Fagottstimmen Debussy an saufende Kühe dachte (Kritik Orchestre Lamoureux, Felix von Weingartner, 1903). Als jene oktavierten punktierten Viertel kommen, die den gutmütigen Hintergrund für Variationen über den Themenkopf der Klarinette bilden, denke ich: Aha!

Das abschließende Allegretto bringt dann diese esoterisch inspirierte Entspanntheit, die in dem sanftem Glühen der Höhepunkte gipfelt. Wobei: sanftes Glühen – pfff… besser gesagt: in dem intensiven Strahlen der Höhepunkte gipfelt. Das zweite Thema hat die Einfachheit eines Kinderliedes (oder des Freudethemas der Neunten). Das ist musikalische Alchimie. Bei Rattle phänomenal: Wärme und Komplexität des orchestralen Unterfutters. Sprich des Mitklingens und Mitarbeitens jener Stimmen, die nicht in vorderster Front tätig sind.

Zwei Beobachtungen: Die Durchführung der Sechsten dürfte den Rekord halten, was das Bestreiten einer möglichst großen Anzahl von Takten mit einem einzigen Motiv angeht. Und in der Pastorale wollte Beethoven ausprobieren, ob eine Sinfonie ohne lärmende Kadenzen und ohne energische Durchführungen überhaupt Sinn ergibt.

Und wie romantisch wirkt der frei sich entfaltende Hornklang!

Die Sechste liegt Rattle. Sie lag ihm schon immer. Sie wird ihm liegen, wenn er die Philharmoniker 2045 vom Rollstuhl aus dirigieren wird. Darauf wette ich zwanzig Flaschen Fuller’s London Porter („rich, dark and creamy“).