Einer der größten Seufzer: Warum hat Debussy keine zweite Oper geschrieben? Pelléas et Mélisande ist einfach perfekt. Jede einzelne Note ist ein kleiner Gott. Und doch ist Pelléas ziemlich anti-oper. Und so hyperintelligent, dass Wagners Siegfried sich im Vergleich anhört wie sächsische Blutwurst.
Pelléas ist ein Monsterwerk des Leisen. Mikromotivisch ist die Faktur. Eine orchestrale Geste ist eine Enzyklopädie des Unbewussten. Die Handlungsarmut hat das Stück von Parsifal. Aber das Faszinosum der Oper ist eindeutig Mélisande: scheu, schön, seltsam. Nicht von ungefähr lässt sich die Thematik mit „So flirtete der Adel im alten Frankreich oder: Was tun, wenn die Partnerin eine Kindfrau ist und fremdgeht?“ umschreiben.
Liebhaber der italienischen Oper werden Arien vermissen. Sie hören stattdessen Deklamation voll Debussy’schen Understatements. Die Premiere ist die erste von zweien der diesjährigen Opernfestspiele. Premerienort ist das Prinzregententheater.
Elena Tsallagova und Elliot Madore sind ein überzeugendes Liebespaar. Sie trägt züchtige Bluse, er ein Freizeithemd, das stark nach Tchibo Summer Sale ausschaut. Tsallagovas Sopran vereint Wärme, ja Hitze, und Temperament. Tsallagova verzichtet auf ätherische Sopranhöhen. Elliot Madores angenehm weicher Bariton vereint Energie und Natürlichkeit.
Die Geneviève Okka von der Damerau ist eine apart gekleidete Matrone mit üblem Haarturm und tiefensicherem Organ. Ich versuchte mir die ganze Zeit den Staub vorzustellen, der aufflöge, wenn ich die Frisur mit einem Teppichklopfer abklopfte. Ihr zur Seite der Arkel von Alastair Miles mit autoritärem Bass. Optisch ist Miles ein Art Alte-Musik-Dirigent, Oxford oder Ostküste.
Golaud ist Markus Eiche. Er gibt den großen Aufschwüngen in Akt II, Szene 2 Wahrheit und Dringlichkeit.
In der Produktion ist kein originärer Frankophone vertreten, was der idiomatischen Wiedergabe ein bisserl abträglich ist. Ich glaube, Elliot Madore sang am wenigsten à la francaise.
Dem langgewachsenen Constantinos Carydis glückt eine zufriedenstellende Wiedergabe. Er gibt dem Geschiebe von Mikromotiven Sinn und Bewegung. Er haucht den kurzen Aufwallungen des Orchesters Hitze ein. Er verflüssigt Posaunengesten. Er betont unauffällig und gekonnt Kontinuität.
Das in liebevoll präparierter Kühle prangende Bühnenbild von Maria-Alice Bahra suggeriert dem Zuschauer unzweideutig, dass Fremdgehen einfach keinen Spaß macht. Puuh. Das ist optische Tiefkühlkost. In die gleiche Kerbe schlägt die Inszenierung von Christiane Pohle. Hier herrscht Tristesse pur. Am Reception Desk blüht keine Liebe, so schnuckelig Elena Tsallagova und ihr Elliot Madore auch anzusehen sind. Es herrscht die Einsamkeit in Beton und Glas. La Defense statt Quartier Latin. Das funktioniert heute Abend bei den Opernfestspielen München ansatzweise, aber eben nicht durchgehend. Das Konzept, hier traumgleiche Artifizialität der Musik hier, dort trostlose Künstlichkeit der Bühne, will nicht aufgehen. Trotz berührender Personenregie. Zut alors.