Es ist Herbst.
Simon Rattle dirigiert einen Schumann-Brahms-Zyklus. Er pflegt den philharmonischen Markenkern. Auch wenn zum philharmonischen Markenkern inzwischen auch Ligeti gehört. Also besser formuliert: Die Berliner Philharmoniker hauen auf die Pflöcke, die ihre Kollegen vor Urzeiten eingeschlagen haben. Karajan ist da nur philharmonisches Paläozoikum. Furtwängler ist Proterozoikum.
Schumanns Sinfonie Nr. 1. Das ist grandioser Schwung und viel punktierter Rhythmus.
Auffallend ist die kurze Exposition, schön die lebhaften Streicherfiguren, wenn das 2. Thema von den Holzbläsern aufgenommen wird. Schumann verkürzt den Bereich des 1. Themas in der Reprise, was zur Frische beiträgt.
Das Larghetto ist ohne Schwere. Die Streicher machen auf melodische Breite. Das Resultat ist so viel Wärme, wie die romantische Gemüthaftigeit des Themas gestattet. Die Vorschlagsnoten von Oboen und Horn, diese zwei Sechzehntel beim vierten Themendurchlauf, bezaubern.
Im 3. Satz fällt auf, wie wenig sich das erste Trio vom Scherzo-Teil abgrenzt.
Das Finale schickt Rattle wie einen irre gewordenen Torpedo in den Raum der Philharmonie. Rattle beschleunigt am Ende der Exposition, und die schlussendliche Beschleunigung in der Coda hat was vom naiven Schrecken der Freischützromantik.
Schumanns Sinfonien faszinieren. Zig Male gehört, und immer noch ist man nicht weiter als beim ersten Mal. Das ist der Al-Fresco-Stil. Schumanns Mittel scheinen einfach. Die Hornrufe im Finale – vor der Reprise und in der Coda – sind so sinnfällig wie melodisch simpel. So wollte Brahms dann doch nicht mehr schreiben. Noch Schumann’scher klingen die Posaunenstellen, die das Schaurige und das Vertraute zugleich meinen. Erster und vierter Satz ähneln sich: Beide haben eine kurze Einleitung mit hymnischem Motto, beide beschleunigen am Ende turbulent. Einzig der letzte Teil der Coda des 1. Satzes – nach dem neckischen Aufstieg der Solo-Flöte – klingt konventionell.
Dann gibt es da die Stellen, die rührend an Wagner erinnern. Zuerst jene im Finale, da die Oboe sich beim hymnischen Thema zu Klarinetten und Oboen gesellt und die unweigerlich an Kurwenals „an Leut‘ und Volk verschenkt“ erinnert. Dann im Abspann des Largehttos die dolce vorgetragenen gestoßenen Pianissimo-Sechzehntel von Hörnern und Fagotten, die Spuren von Tannhäuserstimmung in sich tragen. Auch die vor der Reprise eingeschobene Andante-Stille, die die Hörner mit ihren Rufen füllen (Stefan Dohr und Sarah Willis spielen ein schönes „con fuoco“) und der folgende Triller der Flöte (Emmanuel Pahud) haben was von der melodischen Frische Wagners.
Rattle schafft es, die Sinfonie aus einem Impuls zu realisieren.
Sehr freundliche Aufnahme durch das Publikum. Simon Rattle spielte die Erste ein bisserl schneller als vor einem Jahr im Novemberkonzert.
Brahms Sinfonie Nr. 1
Ein einzelner Klatscher begleitet beharrlich den Auftritt des Orchesters nach der Pause.
Noch kurz zur Brahmsersten. Die brennende, sehrende Geigenlinie der Einleitung hätte ich mir etwas fantasievoller, schlenkriger gewünscht. Hoppla, die von Rattle gewälte Gangart ist spürbar flotter als beim 2008er-Zyklus. Die Entwicklungen sind elastischer, die Durchführung ist nach dem pp elastisch wie ein gutgezogener Hefeteig.
Im Andante sostenuto liefern sich beim 2. Gedanken Geigen und Bratschen einen spannenden Schlagabtausch. Albrecht Mayer spielt das Oboensolo mit viel Rubato. Daishin Kashimotos glänzendes Violinsolo ist sehr beweglich. Kashimoto spielt mit weniger solistischem, fast möchte ich sagen mit weniger symphonischen Anspruch als der geschiedene Konzertmeister Guy Braunstein es gespielt hätte, aber abwechslungsreicher und nervöser im Ton.
Un poco Allegretto e grazioso: leicht bewegt. Die Leichtigkeit wirkt bis in das Adagio des Finales hinein. Die Pizzicati sind hier nicht schwer oder stockend, sondern bewegt. Das hat was von Karajan, der die Einleitung zum 1. Satz aber noch mal ein Stückerl flüssiger nahm.