Seit den Nullerjahren hört man Brahms‘ op. 25 öfters mit Schönberg als ohne Schönberg.
Iván Fischer ist ein feuriger und genauer Sachwalter des Mit-Schönberg. Sein angenehmer Dirigierstil verbindet Eleganz und Energie. Letztere tritt bisweilen zusammen mit einem herrischen Fuchteln des Dirigierstabs in Erscheinung. Fischer mag es durchaus kleinteilig, aber auch schön locker, wie man im 9/8-Intermezzo hört. Mein Lieblingssatz ist das Andante. Bei den Meistersinger-Anklängen des Mittelteils, die in der Ohne-Schönberg-Version von op. 25 längst nicht so deutlich rauskommen, weiß man nicht wohin mit seiner Bewunderung. Kurzes Hornsolo der unbekannten Dame am Solohorn.
Jetzt aber die Kritik. Simon Rattle dirigierte op. 25 im Jahr 2009 für Leute mit vier Ohren. Iván Fischer für Leute mit nur zwei Ohren. Wer das Unglück hat, zur zweiten Sorte zu gehören, kann heute Abend aber dennoch vollauf zufrieden sein. Generell unterstütze ich aber Interpretationen, die zumindest theoretisch mehr als die gewöhnliche Zahl Ohren voraussetzen. Der Erfolg war sehr lebhaft, wie Debussy einmal aus anderem Anlass (Opéra Comique, Januar 1903) sagte.
Mein Nachbar liest konzentriert Partitur auf dem iPad mit. Ich flüstere Mitte 1. Satz: „Äh. Sind wir schon Durchführung oder noch nicht?“ Er: „Echt keine Ahnung“.
Zuvor spielt Radu Lupu, der auf dem Schemel sitzend und im Profil nach wie vor aussieht wie Brahms mit 60, Beethovens viertes Klavierkonzert. Lupu spielt die vielen Dolces, die Beethoven in den ersten Satz hineinkomponiert hat, ruhevoll und dennoch nervös aus. Angenehm: Er behauptet nie, dass das alles Zeug ist, das man seelisch nicht verkraftet. Lupu hört sich wie einer an, der die Musik mit unerbittlicher Zuneigung liebt. Im Kopfsatz wird die längere der beiden von Beethoven komponierten Kadenzen gespielt. Bei Iván Fischer kann man glatt vergessen, dass Beethoven Choleriker war. Die Bläsersolisten der Philharmoniker spielen mit all der Zärtlichkeit, zu der diese Herren fähig sind.
Lupu gehört zu den wenigen unter Wert gehandelten Pianisten. Ich persönlich finde Fischers Stil zu drahtig, aber was der Zuhörer serviert bekommt, hat bei Fischer in der Regel Hand und Fuß.
J.C.B. klang ganz interessant, der Typ ist aber letztendlich zurecht im Orkus der Geschichte gelandet.
Partitur auf dem Tablet mitlesen – hatte ich vor gar nicht so langer Zeit auch schon mal. Ich fand das eher unangenehm. Aber immer noch besser als ein röchelnder 80jähriger oder – ganz schlimm – dauerfilmende Japaner.
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Yep, Lupu 1a.
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Die Adaption des Brahms-Stücks durch Arnold Schönberg lernte ich durch Simon Rattle kennen und schätzen. Ich hörte das Konzert mit den Berlinern und besorgte mir die CD sobald sie erschienen war. Seitdem liebe ich diese besondere Art von „Cover-Version“ besonders. Den Dirigenten Iván Fischer habe ich in der Philharmonie noch nicht gehört, war jedoch gestern positiv überrascht von seiner starken Ausstrahlung. Seine Liebe zum Stück und seine Achtung vor dem Orchester war jeden Augenblick spürbar. Chapeau.
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2. Satz Beethoven Klavierkonzert noch nie so plastisch gehört. Keiner gönnt sich sensationellere Kadenzen als Lupu. Ich saß G links – schätze das war Bruno Delepelaire am 1. Cello?
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Nein, das war Ludwig Quandt; weiß jemand, wer die Dame am Horn war?
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Habe gerade Ihren Kommentar zu DIE ZEIT aus 2013 gelesen. Jajaja, unbedingte, vollste Zustimmung. Das waren Zeiten, als Eleonore Büning in der Zeit ein Live-Konzert von Signor Pollini in so verehrungswürdiger Weise besprochen hat, dass ich mich für meine bescheidene Person noch heute an den Artikel erinnere. Muss Anfang 1990er gewesen sein. Wenn es im Feuilleton der Zeit heute um instrumentale Klassik geht, dann entweder im Form eines Interviews bzw. personenbezogenen Artikels (kostet nix und wird zur Not auch von Klassik-Ignoranten gelesen) oder eines Berichts über die notorischen Wagners aus Bayreuth (lesen auch Leute die sonst die Gala nicht verschmähen). Oaaahhhh- Gähn. Echte Konzertberichte? Igitt! O Gott! Ach nee, lass ma. Man fühlt förmlich, wie sie in der Zeit-Redaktion schon bei dem puren Gedanken an so was zurückschrecken wie vor einem toten Fisch. Lieber 2 Seiten Kunstmarkt, da kann man die passende Werbung direkt daneben platzieren und signalisiert auch noch kulturaffine Höherpreisigkeit. Lieber das x-te Uhren-Special im Zeitmagazin. Interessiert zwar niemanden, aber bringt Kohle. Der pure Horror.
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