Haben nicht viele die Mahler 9. viel öfter gehört als die 7. Beethovens?
Das zuerst angesetzte Klavierkonzert Jörg Widmanns (Bronfman sollte spielen) wurde nicht fertig, oder Bronfman sagte NJET, oder Rattle sagte NO, oder die Philharmonier NEE.
Das stattdessen gespielte Stück Flûte en suite hat Jörg Widmann gut komponiert. Die Charakteristika: viel Schwirrklang und ein großer Artenreichtum an Instrumentaltimbres. Emmanuel Pahud spielt. Leute, die den Wert einer Komposition nach der Anzahl der mitwirkenden Musiker bemessen, sind an diesem Abend für Jörg Widmann. Flûte en suite hat die Aura der Könnerschaft. Aber wozu das Ganze? Qualität, sei wachsam.
Simon Rattle handhabte die 7. Sinfonie von Ludwig van Beethoven auf typisch unkalkulierbare Art. Das Zentrum schien mir der dritte Satz, der von einem ähnlich gewichteten vierten gefolgt wurde. Das Allegretto klingt nervös, unruhig, auch etwas unstabil im Puls, labil, was das Vorankommen angeht, und dadurch rascher als es tatsächlich ist. Dadurch Intermezzo-Charakter. 3. Satz rasch, aber doch recht genau an den 132 punktierten Halben der Partitur orientiert. Dafür mit gewalttätigem Accelerando vor dem letzten Assai meno presto. Der Paukist (Wieland Welzel) leistet tadellose Arbeit.
Der 1. Satz ist vor lauter Energie für den Augenblick ohne den ganz großen Zusammenhang, zum Beispiel kurz vorm 2. Thema und dann beim Crescendo danach. Heftiges Blech und rabiate Bässe führen zum Eindruck unwirscher fafnerhafter Ungestümheit. Fast hört man in den letzten Takten, wenn die Bläser weiterspielen und die Streicher sich eine Viertel lang ausruhen dürfen, zwei Mal das Blech Jauchzen. Im Finale scheinen die Berliner Philharmoniker zu Beginn ein paar Mal mit höchstem Bewusstsein, d.h. wohlkalkuliert zu schludern, wie das die Wiener meisterhaft und routinierter können. Heftige Eskalation, Balken-biegende Komplexität. Rattle lässt den Klang etwas unerlöst in der Struktur, was die Faszination erhöht – im Finale, aber auch schon im Allegretto besonders spürbar. Aber man muss das mögen. Wer heute mit schwerer Birne nach Hause geht, kann die Schuld Rattle geben. Auch im Finale ist Simon Rattle recht nah an den vorgeschriebenen 72 Halben. Coda: Man fällt fast vom Stuhl.
Nach der 7. scheint Haydns hübsche c-Moll-Sinfonie mit dem viel zu kurzen Finale schon weit weg. Albrecht Mayer Oboe, Andreas Blau Flöte (Handshake mit Pahud nach dem Widmann), Fagott konnte ich gar nicht richtig erkennen, Damiano und Schweigert sind tlws. schwer auseinanderzuhalten. Madeleine Carruzzo neben Konzertmeister Stabrawa. Stefan Dohr nicht da, ist selten. Nur ein Konzertmeister (Signor Stabrawa), ungewöhnlich bei Rattle.
Der Widmann war doch irgendwie eigen. Jemand neben mir sprach vom Katzenhaus. Das mache ich mir so nicht zu eigen; zeitweise fand ich die subtileren Bachiana ganz nett, doch die Schlussbadinerie vermittelte zu sehr den Eindruck, dass Widmann sich damit den anschließenden Applaus sichern wollte, frei nach dem Motto: Bach mögen sie alle.
Siebente Beethoven dürfte in meinem Fall die Neunte Mahler um den Faktor 4:1 übertreffen. Die Überbetonung des Rhythmus zulasten des Klanges ist bei der Siebten quasi schon kompositorisch angelegt, fühlte mich daher von Rattles Siebenter während des Konzertes sehr gut unterhalten; mit dem ersten after concert drink war die Wirkung dann aber schnell verpufft und übrig blieben die schon angesprochenen offensichtlichen Schwächen, insbesondere das fahrige (nicht unbedingt zu schnelle – wiewohl die furtwänglersche Andante-Sichtweise auch was hat) Allegretto und das etwas gehetzte Finale. Zugegeben, auch die brachiale Bassgewalt schwirrt noch nach.
Gibt’s eine Erklärung für die zwei Kontrafagotte? Habe die bei der Siebten noch nie gehört und/oder gesehen und meine Studienpartitur will davon auch nichts wissen.
Die Haydn-Sinfonie dürfte anderswo schwerlich mit mehr Drive gegeben werden. Fetzte.
LikeLike
2 Kontrafagotte, hab ich gar nicht gesehen (womöglich abgelenkt von den vielen Damen an den Celli). An der Jonathan-del-Mar-Ausgabe kann es nicht liegen.
Nach ein paar Tagen Setzen-Lassen fand ich das Allegretto komplett uninteressant. Komplett ohne Vibrato, stählerner Ton der Geigen – hmmmm. Überraschend war, dass die Bläsersolisten sich der zugegebenermaßen nicht allzu vielen Chancen zu glänzen strikt enthalten haben, war bestimmt Order vom Chef.
Nett auch die offensichtlichen Probleme der Streicher mit Rattles Tempo bzw. Heftigkeit beim Einstieg ins Finale sowie der Hornausrutscher im höchsten Getümmel der Finalcoda (Freitag). Als Ganzes fand ich die 7. überzeugend. Im Nachhinein tun es mir besonders die schwelenden Crescendi im 1. Satz an.
LikeLike
Ich schließe mich Werneburg an. Die Wirkung von Rattles Beethoven verfliegt rasch. Satz Nr. 1 = nee dieses Wischiwaschi Geschiebe am Ende der Einleitung. Satz Nr. 2 hatte die Anmut einer vierschrötigen Komsomolzin mit der Statur E. Hemingways, und zwar als er 60 war. Satz Nr. 4 = heilloses Geschrammel.
LikeLike
What the f— is this??? —- Gegen den Beethoven von Mr. Rattle schmecken die Beiträge der meisten anderen Dirigenten wie pasteurisierte Magermilch von Lidl. Wer hat die 7. von Zinman Okt 08 gehört? Eine charmante, aber routinierte Einladung zum Gähnen
Anmerkung – Rattle hat sich bei seiner Interpretation der 7. im Vergleich zum Beethovenzyklus Februar/April 2008 in Richtung Harnoncourt manövriert.
Ad Philharmoniker – Ein Kritiker der NYT hat einmal anlässlich eines Gastspiels der BPhil in NY unter Abbado angemerkt ,das Verfehlen der spieltechnischen Perfektion wäre der Bereitschaft geschuldet, das bestmögliche aller Ergebnisse zu wagen. Ecco.
LikeLike
Noch mal zu den Kontrafagotten, die saßen nicht direkt hinter den beiden ohnehin besetzten Fagotten, sondern etwas weiter links hinter den beiden Hörnern.
Habe mal etwas recherchiert und zunächst nichts gefunden. Weder im Manuskript noch in den Druckausgaben der Partitur von 1816 (Steiner & Co.) und 1863 (Breitkopf & Härtel) tauchen die Kontrafagotte auf. Allerdings bin ich in Thayers Beethovenbuch auf folgende Notiz Beethovens zu seiner Siebten gestoßen:
„Bei meinem letzten Konzert im grossen Redoutensaal spielten 18 erste Violinen, 18 zweite Violinen, 14 Bratschen, 12 Cellos, 7 Kontrabässe und 2 Kontrafagotte.“
Für „Cellos“ würde man heute im Musikunterricht verhauen werden. Interessant aber, dass Beethoven die beiden Kontrafagotte zusammen mit den Kontrabässen nennt. Denn ich hatte schon während des Konzerts den Eindruck, dass die Kontrafagotte nicht mit den Fagotten spielen würden, sondern mit den (Kontra-)Bässen, so insbesondere bei den Sechzehntel-Doppeloktaven im Poco sostenuto-Teil des ersten Satzes. Wahrscheinlich haben die durchweg die Bassstimme mitgespielt. Dass sie dann so weit von den Bässen (war ja keine deutsche Aufstellung, Bässe saßen rechts) entfernt saßen, erscheint mir nicht ganz logisch.
Fazit: Rattle ist da wohl ganz tief in die Beethoven-Forschung eingestiegen – weder bei Norringtons Aufnahme aus den späten 80er noch auf Harnoncourts Einspielung höre ich Kontrafagotte. Der Mehrwert im Konzert war allerdings begrenzt. Ich hab nur das typische Schnarren gehört (saß diesmal nach der Pause E links).
@ Hornausrutscher, da bin ich so zusammengezuckt, dass die Dame neben mir sich ganz erschrocken hat. Erwartetet man ja auch nicht von den Philli-Hörnern.
@ Preisrichter: dass Rattles Beethoven schnell, aufputschend, heftig usw. war, man also gar keine Möglichkeit zum Gähnen hatte, bestreitet glaub ich keiner. Dass es stellenweise verwackelt, überhektisch, unrund war und gerade deswegen insbesondere im Allegretto die Spannung fehlte, steht für mich aber auch außer Zweifel. Und dass spieltechnische Imperfektion zu einer großen Aufführung gehören, bestreite ich ganz nachdrücklich.
LikeLike
Noch mal Kontrafagott. Habe mich informiert. Beim Beethovenzyklus 2008 spielte Rattle die 7. Sinfonie mit 2 Kontrafagotten und die 9. mit 1 Kontrafagott. Wobei die Kontrafagotte wohl nicht in der Partitur, d.h. in der del-Mar-Partitur, stehen.
Die Sinfonien 1., 2., 3., 6., 8. ohne.
Alle Sinfonien unter Rattle natürlich nach der Jonathan del Mar Edition.
Harnoncourt spielte die 5. letzten Herbst mit 1 Kontrafagott.
LikeLike
Das Finale war aus meiner Sicht genial und fast auf die Sekunde gleich lang wie die legendäre Aufnahme von Carlos Kleiber mit dem Bayrischen Staatsorchester. Auch wenn ich das Konzert (aus Wien) nur über die Digital Concert Hall gehört habe war dies für mich eines der besten Interpretationen (insbesondere der 2. und 4. Satz) die ich je gehört habe.
LikeLike
Besonders das Ende des 2. Satzes, Beethoven Siebte war unvergleichlich schön.
LikeLike