Ich bin noch ganz fertig vom Barenboimkonzert am Dienstag. Und jetzt kommt Jansons mit der Dvořák-9. Ich bin ja immer für möglichst viel Ligeti, Zimmermann oder was ähnliches im Philharmonikerkonzert, aber heute ist das Programm auch gut – dem Berliner Wetter angemessen: sonnig, mit Ferienvorgeschmack.
Martinu: Seit ich mal eine Martinů-Sinfonie verpasst habe,
dirigiert in meiner Abwesenheit vom hervorragenden Belohlávek, bin ich Martinů-Fan. Martinus 2. Violinkonzert – nach der Verkauften-Braut-Ouvertüre, der musikgewordenen Verkörperung der Träume aller gewesenen und zukünftigen Tschechien-Sommerfrischler – hat sein Gutes: Einfälle, konzise Farbigkeit, Beweglichkeit, kurzweiliges Finale. Warum nicht Bruchs rachitische Konzertchen in die Tonne und Martinus 2. in Zukunft öfters? Frank Peter Zimmermann setzt entspanntes Vibrato, zurückhaltend-sachliche Akkuratesse und wunderschöne, kühle Farbigkeit ein. Philharmoniker: verschmitzte Sonnigkeit.
Neunte Dvořák. Nie zuvor im Konzertsaal gehört, was entweder für meine Borniertheit spricht oder eine seltsame Fügung des Schicksals darstellt. Aber die Berliner Philharmoniker waren nicht besser als ich; seit mehr als 10 Jahren war es wieder das 1. Mal für sie.
Die blakenden 64./32.-Stöße der Bläser (Holz und Hörner) des einleitenden Adagios haben (wie vieles weiteres im 1. Satz) was Fliegender-Holländer-mäßiges – in den 1890er Jahren!! Den straffen Glanz der Fontäne des 1. Themas – eine melodische Stichflamme von höchster thematischer Evidenz, von Genfer-Jet-d’Eau-Ausmaßen, Wagners Nothung-Motiv ins tschechisch-geniale Sinfonische übersetzt – formt Jansons in schnörkellos-souveräne Schlankheit um. Jedenfalls ist die Neunte das absolute Gegenteil einer Sinfonie, die Opfer von melodischem Pfusch geworden ist. Selten habe ich so viele Herren auf der Toilette symphonische Motive pfeifen gehört.
Mariss Jansons dirigiert eine 9. von höchster Effektivität und Ökonomie des Orchestereinsatzes. Kostbarkeit der Holzbläserlasuren: Die Holzbläser vernaschen eine lichtdurchflossene Stelle nach der anderen. Transparent-pointierte Solisteneinsätze. Wunderbar akkurat alles, quasi piccobello, dabei von meisterhaft unauffälliger Flüssigkeit, was die Zeitmaße angeht.
Im Largo aufgelichtete Farben, zarteste Beweglichkeit. Dominik Wollenweber löst die Eintrittskarte in den Englischhornspielerhimmel. Kommentar meiner netten Begleitung: „Ahh… Winnetou“. Die Evokation des 1.Satz-Themas gegen Satzende hat wenig Gewicht und Geheimnis, vertraut vielmehr auf Farbe und Markigkeit. Jetzt eine ganz blöde Frage: Ist das nicht Concertgebouwler Lucas Macias Navarro, der Oboe bläst – gab’s ja schon mal unter Abbado 2011????? Und kennt jemand diesen 1. Hornisten (Dohr heute nicht da), dessen Hornton die Schlankheit eines wohlgeformten böhmischen Knödels besitzt?
Jansons: In den Remmidemmi-Sätzen fallen der Verzicht auf dramatisches Drängen, auf Expression, mithin auf den Rattle-Faktor und infolgedessen eine fast übergroße Sauberkeit auf. Betonung auf „übergroße“. Der letzte Satz perfekt. Wer sich vorab verlässlich über den 4. Satz informieren wollte, ist hundertprozentig auf „Aaaaaaaaaahhh I absolutely love the way the starting theme from the 2nd movement recurrences in the end…“ auf Youtube gestoßen. Die Geiger schrammeln um ihr Leben. Konzertmeister Braunstein haut es fast vom Stuhl.
Einer der komplettesten Dirigenten gegenwärtig. Jansons zuzuschauen ist ein endloses Vergnügen. Simon Rattle ist der mitreißendere. Jansons vielleicht der unfehlbarere, Rattle der fehlbarere. Jansons der beherrschtere. Rattle der verrücktere. Jansons konservativ-kühler im Geschmack, trotz aller derzeitigen Konkurrenzlosigkeit bei Bartók, Rattle hier avancierter. Rattle hat mehr zu sagen.
Mann, die Joyce DiDonato (Mittwoch, KMS) hat aber auch ein Pech. Sie singt, wenn Deutschland spielt. Eine schlechte Kombination, wahrscheinlich nicht für die deutsche Mannschaft, sicherlich aber für DiDonato.
Diese Kritik wurde geschrieben, während eine Nachbarin zuerst Chopin Etüde 12 op. 25 (drei Mal so langsam wie Pollini), dann Mozart Türkischer Marsch, dann irgendwas von Rachmaninow (mit viel Berliner Gefühl) übte. Haben Sie also Nachsicht. Ich mache das eigentlich nicht, aber diese Kritik hier ist äußerst lesenswert: DOB Il trovatore.
Kritik/Review Jansons Berliner Philharmoniker: sachliche Leidenschaft auf höchstem Niveau. Dieses Konzert garantiert gute Laune für die nächsten 7 Tage, auch bei nicht so unwahrscheinlichen Niederlagen des deutschen Teams.
Hobbypianisten, die Chopin und Mozart üben sind immerhin besser als solche, die Beethoven Waldsteinsonate üben!! Im Ernst – Mariss Jansons ist für mich der beste Dirigent zur Zeit. Simon Rattle versucht es stets mit Überrumplungstaktik, was ich persönlich nicht immer den Werken adäquat finde.
LG
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Wollenweber Englischhorngott
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@Dieses Konzert garantiert gute Laune für die nächsten 7 Tage, auch bei nicht so unwahrscheinlichen Niederlagen des deutschen Teams.
Jansons hat man die überraschende Niederlage der Niederländer auf jeden Fall nicht angemerkt, wovon ich mich mit eigenen Ohren am Samstag überzeugen konnte. So was nenne ich Professionalität :-)
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@Simon Rattle versucht es stets mit Überrumplungstaktik
Da ist was wahres dran. Doch in Sachen dynamischer Sturm und Durchdringung der Musik ist Rattle dann doch interessanter. Jansons ist eher der Typ Mastermind. Jansons führt jede noch so kleinste leidenschaftliche Regung auf irgendein Detail zurück. Rattle integriert so was in eine Art Strömen der Musik, das bei Jansons kaum stattfindet. Aber selbstverständlich war das Jansons-Konzert allererste Sahne.
Grüße Schlatz
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„Strömen“ kommt mir zu Rattles Stilistik nicht in den Sinn, eher „rattern“.
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Um mich der Diskussion anzuschließen, gebe ich jetzt ein Statement ab :-)! Ich neige bei 20. Jahrhundert zu Rattle, bei 19. zu Barenboim. Über den Wert der Wagnerdirigate von Barenboim bestehen ja nicht allzuviel Zweifel, aber auch bei Schumann klotzt Barenboim richtig ran. Ihm liegt ohne Zweifel das deutsche Repertoire. Rattle ist bei 20. Jahrundert sicherlich mit Jansons eine Wahl, bei der man nich tviel Falsch machen kann, aber auch die Salome von Rattle im letzte Jahr oder Rattles Brahmszyklus ovr einiger Zeit fand ich hörenswert. Der Eindruckd es Autors, dass Jansons kühl klingen kann, kann ich unterstützen. Aber fürs 20. Jahrhundert ist das ja nicht das allerschlechteste:-))
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„Die Evokation des 1.Satz-Themas gegen Satzende hat wenig Gewicht und Geheimnis“
Meinen Sie im vielleicht im 3. Satz? Im 2. Satz fand ich butterweich
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Danke für den Kommentar. Wenn Sie das sagen, haben Sie sehr wahrscheinlich recht. Nach 6 Tagen ist kein Verlass mehr auf präzise Erinnerung bei mir.
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