Vorher Gewitter und Platzregen, dann leichtes Tröpfeln, aus dem Tiergarten weht frische Luft rüber.

Kein Auftritt in der Philharmonie wird herzlicher zur Kenntnis genommen als der Claudio Abbados. Es ist langer, von Herzen kommender Applaus. Die erste Programmhälfte rechtfertigte ihn.

Schumanns Genoveva-Ouvertüre gelingt hervorragend, Anne Sofie von Otter, eine schlohweiße, in skandinavischer Frische gekleidete Dame auf der Schwelle zur Seniorin, die den Eindruck macht, als sei sie just eben auf die Terrasse ihrer hübschen Datscha getreten, singt mit spartanischer Genauigkeit Bergs Fünf Orchesterlieder nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg, Isabelle Faust spielt mit den Philharmonikern ein kaum zu übertreffendes Berg-Violinkonzert, das Abbado bis zur Durchsichtigkeit und liebhaberischen Wunderlichkeit längt.

Überhaupt Isabelle Faust (fesches Outfit!). Isabelle Fausts heller Gesangston, von schlanker, präziser Anmut, trägt wunderbar im Espressivo-PP und selbst im „schattenhaften“ PPP; seine Flexibilität steigert sich im ersten Satz zu kühler Erregtheit, im zweiten zum scheuen, transzendenten Cantabile. Und doch ist Wagnis dabei. Sicher und flüssig, kühl schimmernd die Linie! Da gibt’s ein unendlich feines Dolcissimo (Takt 118). Ein Vergnügen! Fausts schmale Plastizität, äh die ihres Tons natürlich, ist erregend bis ins allerletzte Pianissimo-G hinein. Mit Schrecken erinnere ich mich an Baiba Skrides Remmidemmi-Berg-Konzert vor 2 Jahren. Rund 28,5 Minuten.

Nach der Pause, in der es Herren in knallroten Anzügen, Damenstrümpfe, die in dekorativen Flammen züngeln, und einen echten Kimono zu bestaunen gibt, höre ich die enttäuschende 2. Sinfonie von Schumann. Sie enttäuschte, sie enttäuschte. Der erste Satz endet in Meistersinger-C-Dur, was so ziemlich das Schlechteste ist, was einem Schumannsatz passieren kann. Fehlende rhythmische Finesse! Pauschaler Schwung! Die halbherzigen Akzente! Die zähen 19.-Jahrhundert-Fugatos! (Es ist kein Zufall, dass der Walkürenritt KEIN Fugato ist).

Das Scherzo war schlecht. Das Adagio auch. Ich hatte mich vor dem Konzert schon gefragt, was zum Teufel Claudio Abbado mit der Zweiten wollte??? Im letzten Satz bekam Abbado nach und nach einen zähen Glanz hin, der sich über Schumanns mit sich selbst beschäftigter Partitur legte und letztlich faszinierte (Ich hatte schon abgeschlossen mit dieser Zweiten). Claudio Abbado scheint heuer im sinfonischen Genre eine auf Natürlichkeit und unscheinbare Beiläufigkeit getrimmte Klassizität – oder sollte man sagen Altherrenhaftigkeit? – zu bevorzugen. Wo ist die zerbrechliche, überwältigende Sensibilität hin, mit der Abbado vor sechs Jahren die Binnensätze der 3. Brahms zelebrierte?

Eine Dame reicht Blümchen herauf, die Abbado unversehens an Naoko Shimizu weitergibt. „War dit schön“, sagt der Herr mit spitzer Nase neben mir.

Schumann Sinfonie: 2 x 14 Geigen, 10 Bratschen, 8 Celli. Tatsächlich nur 2 Hörner. Genoveva übrigens mit gleicher Streicherbesetzung. Bläsersolisten: Pahud, Fuchs, Kelly, Damiano. Hörner Stefan Dohr und Sarah Willis.