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Das Saisonheft 2010/11 ist da. Sieht schon besser aus, wenn keine Werbeagentur die Orchestermusiker ins Bild bringt, sondern der gestandene Fotograf Jim Rakete. Aha, das Gruppenbild. Solène Kermarrec guckt, als hätte sie die halbe Nacht im Berghain verbracht. Wenzel Fuchs sieht aus, als wäre er nach dem Berghain noch ins Lido gegangen, um dann in der Maria am Ostbahnhof den neuen Tag zu begrüßen. Andere haben es scheinbar gar nicht mehr zum Termin geschafft oder waren noch weniger vorzeigbar, denn sie sehen aus, als wären sie mit Photoshop nachträglich reinmontiert worden. Ein Mahlerzyklus ist nun nichts Originelles. Wenn schon einen Zyklus, dann Prokofjew, Henze oder Birtwistle. Oder Händel, da hat Rattle doch bestimmt auch einen Draht zu. Naja, aber natürlich wird Mahler unter Rattle hochinteressant. Seit der in jeder Hinsicht erinnerungswürdigen Neunten im Herbst 2007, die Rattle in der Manier eines erregten, panisch die Details ordnenden und fordernden Orchesterleiters, kurz gesagt: in der Manier eines Oliver Kahn in Bestform hingelegt hatte, habe ich so gut wie keine Mahlersinfonie mehr gehört, abgesehen von einer etwas losen, lockeren, etüdenhaften Sechsten von Boulez mit der Staatskapelle. Mein Gefühl sagt mir, dass Rattles Mahler-Vierte und die -Sechste am besten werden.

Der zweite Saisonschwerpunkt bringt russische Musik von Tschaikowsky bis Schtschedrin. Aha, soso, jaja. Das ist genau so, wie es sich anhört. Die Auswahl so inspirierend wie ein ausgelatschter Turnschuh, und noch dazu im Gießkannenprinzip über die gesamte Saison verteilt. Gibt es eine Programmauswahl, die treffender die Innenspannung eines zwei Tage alten Puddings wiedergäbe wie Rimsky-Korsakow Balletsuite Mlada – Tschaikowsky Klavierkonzert 1 – Tanejew Sinfonie Nr. 4? Nein. Oder hier: Messiaen Offrandes oubliées – Prokofjew Klavierkonzert – bis hier her schön, gut, interessant. Doch was kommt zum Schluss? Symphonie Fantastique. Weiter. Was halten Sie von Schtschedrin Diptychon – Rachmaninow Klavierkonzert – Mussorgsky Bilder einer Ausstellung. Schlimm? Ja. Für sich genommen hat jedes Stück was, aber an einem Abend hintereinander? Nee. Naja. Ozawa sagt krankheitshalber insgesamt fast ein Dutzend Konzerte ab. Die Einspringer Rattle und Dudamel – desweiteren ein unaussprechbarer Pole – trösten über den Ausfall hinweg.

Christian Thielemann macht einen snobistischen Strauss-Abend mit etwas Arabella und kleinen Raritäten. Ein Däne (Jensen) dirigiert die Erste Sibelius. Wer soll da hingehen, nachdem Rattle sie im Frühjahr machte? Warum dirigieren Blomstedt und Haitink maßvollen, langen, trüben Bruckner und Brahms? Etwas besser verhält es sich mit der Koproduktion Dvorak Siebte – Martinu Juliette – Charles Mackerras, aber wenn ich die Wahl zwischen einer Berliner Weißen im Treptower Park und diesem Konzertabend hätte, ich würde mich für die Berliner Weiße entscheiden. Grandios dagegen der kleine Alban-Berg-Zyklus im Schatten der Mahlersinfonien Simon Rattles. Eine Delikatesse ist Simon Rattles konzertante Salome, ein luxuriöser Zweistünder, der dafür entschädigt, dass Rattle seit einiger Zeit einen schüchternen Bogen um Strauss macht. Die konzertanten Wagner-Sachen (Rheingold etc.) der vorangegangenen Saisons waren so-làlà, sowohl was Rattle als auch was die Philharmoniker anging, und besonders mit den kühnen Wagnerabenden- bzw. spätnachmittagen der Staatskapelle unter Daniel Barenboim im Ohr. Dudamel backt als einziger einen Mozartkuchen mit den beiden Zutaten KV 482 und Emannuel Ax, dazu hebt Dudamel neuromantischen Webern (Passacaglia) und nationalromantischen Strawinsky (Feuervogel) unter. Ach guck mal an, Claudio Abbado im Mai mit Mahler, Berg, zwei Mozart-Arien und Liszts Totentanz, ein Programm-Menü durchtriebener Individualität, kräftig eingewienert und mit einem typischen Schuss Spätromantik. Maurizio Pollini spielt den Liszt. Daniel Barenboim und Mariss Jansons fehlen – eine Enttäuschung. Mozartkonzerte mit Barenboim fände ich gut, Beethovensinfonien mit Daniel Harding ebenfalls (die langsamen Sätze müsste aber bitte Barenboim machen). Schade, dass Riccardo Chailly nur das Konzert in der Waldbühne leitet. Jansons könnte mal mit Alban Berg kommen. Immerhin gibt es mit Takemitsu und Hosokawa einen ausbaufähigen Mini-Zyklus mit japanischer Gegenwartsmusik. Brahms sollte man für zwei, drei Saisons komplett verbieten. Ich kann mir im Vornherein ausmalen, wie jede einzelne Note des zweiten Klavierkonzerts, dirigiert von Haitink, klingt.

Aber vielleicht kommt ja doch alles ganz anders. Trau nie dem Saisonheft, es sei denn es ist das von letztem Jahr.

Berliner Philharmoniker Programm