Premiere. Dieses Jahr nicht bei den Philharmonikern im holzgetäfelten Weinberg-Saal der Philharmonie, sondern beim RSB im weiß-goldenen Rechtecksaal des Konzerthauses! Hier gibt es wohltuend klassisch die Neunte ohne hinterfragende Textbegleitung und ganz ohne Einhegung durch zeitgenössische musikalische Kontrastmittel.
Ausverkauftes Konzerthaus am Gendarmenmarkt, Leute, die nicht jede Woche ins Konzert gehen, Schlangen an den Garderoben, Espresso mit Schuss vor dem Konzert.

Dabei nähert sich Karina Canellakis Beethovens Sinfonie Nr. 9 hörbar nüchtern. Feierlaune? Erst mal Pustekuchen. Die US-Amerikanerin will nichts von beklommener Bedeutungsschwere im leisen Quinten-Anfang wissen und gleicht die Scheu vor dramatischer Aufladung, je länger der erste Satz dauert, durch eilenden Geschwindschritt aus. Wobei man tatsächlich überhören kann, dass das zweite Thema das zweite Thema ist.
Aus dem selbstbewussten Scherzo der Neunten kitzelt Karina Canellakis motorische Energie ganz ohne symphonische Schwere. Nur dass da ein unerbittlicher Zug fehlt, ohne den das Scherzo die Tendenz hat, sich in die Länge zu ziehen wie eine Silvesterparty ohne Schuss.
Die Partitur liegt auf dem Pult: ein kleines dickes Buch.
Dann das Adagio. Das das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin als B-Dur-Reise – mit leichtfüßigen Ausflügen in andere Tonarten – recht flüssig abrollen lässt. Als spannungsvolle Aufrüttler dienen die doppelten Fanfaren. Nie und nimmer klingt das nach Gebet, geschweige denn nach Jahresabschluss-Besinnlichkeit. Dafür überraschend schwebend, ohne jede Getragenheit. Tönt so ein froher Ausblick?
Und im Finale wackelt der Saal.
Geklatscht wird nach jedem Satz und im Finale sogar vor dem Alla marcia. Canellakis ist da ganz cool, deutet eine Drehung an, nickt freundlich, weiter gehts. Nur mein Sitznachbar versinkt angesichts solcher Klatscherei in seinen Stuhl und flüstert: „Das kann doch nicht sein. Das kann doch nicht sein“. Doch schon rollt das Finale unaufhaltsam Richtung Apotheose, sangeskräftig unterstützt vom Solistenquartett Siobhan Stagg, Sophie Harmsen, Andrew Staples und Michael Nagy. Und schlussendlich mündet das vergnügliche Presto ins Prestissimo, und das ist dann ohne Zweifel ein explosiver Feger, in dem selbst die Musiker an Triangel und Becken ins Schwitzen kommen. Erwartbar makellos zieht sich der Rundfunkchor Berlin aus der Silvester-Affäre.
Wie also wird 2024? Nüchtern, aber mit einem Schuss Vergnüglichkeit, sagen Canellakis und das RSB.
Besuchtes Konzert: 30. Dezember 2023.
Echt jetzt? Mitten im Finale geklatscht?
LikeLike
Klar. Im Silvesterkonzert ist alles erlaubt. Meinetwegen hätten sie auch einen Effekt einbauen können, wie die Coda vom ersten Allegro wiederholen. Oder alles ab der Durchführung, so wie es der Hogwood bei Haydn macht.
LikeLike