Wer hat Angst vor Neuer Musik? Nur die, die sie nicht hören.
In Witten fanden die 55. Tage für Neue Kammermusik statt. Die Neuausgabe ist, dank mitveranstaltendem WDR3, nicht nur per Vorortpräsenz, sondern ebenso via Digitalpräsenz im Radiostream zu erleben. Was der Rezensent drei Tage lang macht. Witten 2023 bietet einen prall sortierten Strauß von Uraufführungen, wobei, es sei bemerkt, Wiederbegegnungen mit andernorts erstaufgeführten Werken gegebenenfalls auch extrem sexy sind.
Drei Erstaufführungen sind es beim Freitagskonzert des Klangforum Wien. Die erste, Doubles des Norwegers Eivind Buene, frönt grüblerischer Melancholie, was aber nicht als Omen für eine mögliche Gesamthaltung des Festivals genommen werden durfte. Bei Buene verbreiten gepflegte Soundscapes und resignatives Pulsieren jedenfalls echt skandinavisches Feeling. Also? Harmlos. Toccata I & II von Yann Robin ist eine Art Klavierkonzert. Dem genau formulierten Klang-Somnambulismus des ersten tritt die von subjektiver Gestik freie Hektik des zweiten Teils gegenüber.
Buene, Robin, Glojnarić, Lewis, Alessandrini
Das Stück hat Fokus und Kontrolle, schon das Spannungsverhältnis zwischen Solo und Tutti triggert Hörreflexe, die vom uralten KV466 und dergleichen stammen. Das zwischen Neue-Musik-Ernst und verspielter Ironie schwankende Pure Bliss der kroatischen Komponistin Sara Glojnarić (deutsche EA) versucht sich an einer Beschreibung „reinen“ Glücks. Spannend ist, dass gerade das Glücksversprechen, das der Titel macht, von der exzessiven Nutzung einer „Glücks-Motivik“ (langsames Tempo, schimmernde Klanglichkeit, weich wiegende Wiederholungsmuster) unterlaufen wird. Was sich, man glaubt’s kaum, als überraschend kurzweilig erweist. George Lewis‚ jazznah verortete Disputatio führt motivisch klar strukturierte Einzelereignisse vor, fast wie in avancierter Musik der 1950er. Wie klingt das? Es läppert dahin. Also wenig hinreißend. Das Klangforum unter der Leitung von Vimbayi Kaziboni spielt tadellos.

Das Spätkonzert am Freitag präsentiert zwei unterschiedliche Positionen zeitgenössischer Kompositionen für Streichquartett. A Complete History of Music von Patricia Alessandrini wirkt wie Fingerübungen in gedämpfter Subtilität. Dass Alessandrini Tonspuren bekannter Musikwerke einspielt, macht das Stück ärmer anstatt reicher. Gemischten Gefühls lauscht man ebenso Solastalgia von Bauckholt/Hellqvist, eine Collage aus tauendem Eis abgelauschten Geräuschen, ein gänzlich strukturloser Hörstrom, desssen fortgesetzter Einfühlungsappell, wie das 19-minütige Stück insgesamt, einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt. Für Alessandrini wie für das Komponistinnen-Duo Bauckholt/Hellqvist setzen sich Quatuor Diotima sowie SWR Experimentalstudio mit Nachdruck ein.
Immer gern höre ich Moderatorin Leonie Reineke.
Der vorsommerlich sonnige Samstag lockt mit drei weiteren Witten-Terminen, alle wie gehabt auf WDR3. Das Nachmittagskonzert bestreiten wieder Quatuor Diotima und Klangforum Wien sowie die Formation Dell, Lillinger, Westergaad. Programmiert sind drei weitere Uraufführungen. Márton Illés startet in Húr-Tér III für Streichquartett einen Parcours witziger Mini-Ereignisse. Das klingt subtil, verspielt, hektisch. Strömt aber in langen 20 Minuten recht gefällig vor sich hin. B i r d von Bastien David, der sich hier in die Tradition vogelverrückter französischer Kompositionen einreiht, gleichfalls für Streichquartett, frappiert mehr.
Bauckholt, Hellqvist, David, Illés, Dell, Mason
Hier hört man nicht nur artentypisches Verhalten wie Zwitschern und Flügelschlagen gestenpräzise in Nötchen, Geräuschen und Figürchen transformiert. Das füllt die gut 13 Minuten struktursicher, hat genauen Zugriff, und der Klang ist glasklar. Einer der erfreulichsten Festivalbeiträge. Tiefer fliegen tut Axiom I. Hier sind die drei Komponisten Dell, Lillinger und Westergaard ihre eigenen Interpreten, oder Composer-Performer, wie es im Neue-Musik-Sprech heißt. Der strenge Titel verhindert nicht, dass das Stück jazzig vergestet dahinsprudelt und einen Tiefpunkt des Festivals darstellt. Mit von der Partie ist hier das Klangforum Wien.

Mit das Spannendste bei Neue-Musik-Festivals sind die wunderlichen Wege, die diese Veranstaltungen bisweilen einschlagen. Wenn eine Gruppendynamik aus unterschiedlichsten Komponierperspektiven entsteht.
Wobei manchmal einfach Schiffbruch passiert. So wie heute, wo mit dem quälend langen Invisible Threads des Briten Christian Mason auf Worte von Paul Griffiths der zweite Tiefpunkt folgt, dargereicht von den Stuttgarter Neuen Vokalsolisten und wiederum dem Arditti Quartet. Es gibt wenig Gutes, was von Invisible Threads zu sagen wäre, außer dass es nicht noch länger dauert.
Doch rasch lichten sich die Festivalwolken am Sonntag und es geht in großen Programmschritten weiter im Wittener Portefeuille. Ein kompaktes Paket aus vier disparaten, kürzeren UA plus einer deutschen EA offeriert die Schola Heidelberg unter Walter Nussbaum, verstärkt durch die Instrumentalkräfte Andreas Mildner und Yaron Deutsch.
Yiran Zhao beschwört in Fú yóu aquarellig verfließende Konturen. In Gestus und Haltung gibt sich das Werklein durchaus traditionell. Es trägt bestens über die gut elf Minuten. Vertraut und rätselhaft wirkt die landschaftlich-wolkige Textur. Diametral entgegen setzt sich dem das zwölfminütige Schedule for Harmony of the Spheres von Agata Zubel, ein aus allen Rohren feuerndes Sprech- und Singstück nach Stanisław Lem. Es beweist virtuosen Witz bei freilich begrenzter Textverständlichkeit.

Damit ist schon die Ausbeute des Vormittags genannt. Eun Hwa-Cho beglückt mit Jouissance de la différence VII Harfe-solo-Freunde (Mildner), und Benjamin Scheuer in Vier Attrappen diejenigen freinsinnigen A-capella-Humors. Während Klaus Langs E-Gitarren-Studie Chanson lointaine et douce, das ist die deutsche Erstaufführung, sich auf edle Halleffekte kapriziert (Deutsch).
Zhao, Zubel, Hwa-Cho, Scheurer, Lang, Gísladóttir, Ospald, Bauckholt
Der Abschluss durch ein „großes“ Orchesterkonzert funktioniert einfach zu gut, als dass die Wittener Neuen Tage, eine der einschlägigen Zeitgenössische-Musik-Veranstaltungen überhaupt, es nötig hätten, darauf zu verzichten. Zumal wenn eines der großen RSOs, hier natürlich das WDR Sinfonieorchester, anreist. Auch hier werden dem diesjährigen Wittener UA-Katalog drei Novitäten hinzugefügt, allesamt qualitätvoll gediegen, allesamt à peu-près 20 Minuten lang.
Bára Gísladóttirs Cor für Bläser, sieben verstärkte Kontrabässe und vier Schlagzeuger (Partitur hier) schwebt faszinierend und bedrohlich, quasi wie eine leicht verbiesterte Klangwolke im Festivalhimmel. Bläser und Kontrabässe spielen mehrheitlich ein E, die häufigste Vortragsbezeichnung der Bläser lautet growl, knurren. Was ziemlich eigenartig und spacig klingt. Es folgen zwei Konzerte im weiteren Sinn. Was Klaus Ospald in Escríbi… anstellt, atmet Kargheit. Nervöse Klangflächen und unpathetische Einwürfe sind der Prämisse komprimierter Essentialität verpflichtet, was man vorsichtig mit „sehr gut gemacht, kein Effekte, läuft“ umschreiben könnte.
Zwei solistische Akteure bringen Escribì zu dezentem Leuchten. Es sind Edicson Ruiz (Bass) und Teodoro Anzellotti (Akkordeon). Der Porträtkünstlerin des Festivals Carola Bauckholt gilt das letzte Wort bei Witten 2023. Aus dem Geröll nennt sich das Schlagzeugkonzert, das in der Art innovativer Leichtbaukonstruktionen fast schwebend daherkommt. Unaufgeregt eingestreut sind die Aktionen des Solisten (Dirk Rothbrust). Hier ist der Zugriff aber beliebiger, wenn auch voll ironischer Geschäftigkeit und routinierter Geräuscherkundung. Das ausgezeichnete WDR Sinfonieorchester spielt unter Lin Liao.
Fotos: (c) Mateja Vrčković (Sara Glojnarić), Luc Hossepied (Patricia Alessandrini), Gabriella Motola (Bára Gísladóttir)
Kritik Witten 2023: „Vierzehn Waldteufel aus der Familie der Trommeln“ (Lotte Thaler)
Extra-Bonus: Im Kulturradio des RBB wird sich Andreas Göbel am 15. Mai mit Witten 2023 beschäftigen!
Das wird ein vollgepacktes Wochenende!
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Mein Sohn wurde am Gymnasium gerade dazu verdonnert, in einer Reihe über Wiener Komponisten ein Stück von Alban Berg in einer „Klausurersatzleistung“ zu besprechen, in einem Podcast. Zur Auswahl standen der Wozzeck oder das Violionkonzert. Die Lehrerin hat sich dafür entschuldigt, ihn zu gängeln, aber die anderen Komponisten seien doch schon so ausgelutscht. Beethoven, Strauß, und all die anderen waren schon vergeben. Zur Wahl stünden noch Brahms, von Suppé, Lanner oder Haydn.
Was soll er machen ? Ich habe gesagt, wenn er was schönes und nicht ausgelutschtes machen will, dann die Liebesliederwalzer von Brahms. Oder Haydn, Schöpfung, ginge auch noch. Eignet sich alles für einen Podcast, weil es aus Nummern besteht. Wozzeck völlig unmöglich ohne szenische Untermalung.
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Brahms, Liebesliederwalzer
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Grade unterhielt ich mich mit meinem Sohn über E- und U-Musik. Die „modernen“ Komponisten sind ja der Meinung, daß sie „E“-Musik machen. Um sich von der U-Musik abzugrenzen, die den Leuten gefällt, weil sie schön und eingängig ist, und die Geld verdient. Für die ernsthafte, weil wissenschaftliche, E-Musik gilt das natürlich nicht.
Früher wie heute war das meiste U-Musik, wenn ich das halbwegs richtig sehe. Wenn ein Bach nur immer Künste der Fuge komponiert hätte, dann hätte ihn sein Kurfürst vermutlich verhauen oder rausgeworfen. Und für Verdi war die erste Prämisse : das Theater muß ausverkauft sein.
Oder wenn man denkt, wie viele enorm erfolgreiche Komponisten es früher gab, die heute völlig vergessen sind. Salieri wäre so einer. Noch zwei andre zitiert Mozart im Finale vom Don Giovanni. Die machten alle U-Musik und es gefiel den Leuten. Figaro war allerdings zu kompliziert.
Und heute ? Ist U-Musik noch immer das, was den Leuten gefällt und sich gut verkauft. Das beste davon, nehmen wir die Beatles oder Freddie Mercury, wird dann sogar weltberühmt und bleibt bestehen.
Nur die modernen E-Musiker sind der Meinung, daß sie sich nicht in die althergebrachten Gesetze von Schönheit und Wirkung halten müssten, und alles durch verkopfte Ratio ersetzen könnten. Wird sich in 100 Jahren noch jemand halbwegs Durchschnittlicher an die erinnern ? So wie an die Fettecke von Josef Beuys, die bis dahin schon längst verranzt ist ?
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Alte E-Musik :
Wie viel davon trifft auf die scheußliche moderne E-Musik zu ?
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Es könnte ja sein, daß es in 200 Jahren eine kopfgesteuerte KI gibt, die aufgrund einer tiefen Analyse aller Verdi-Opern in der Lage wäre, eine neue zu produzieren, die sich fast so anhörte wie eine echte. (Libretto mal außen vor). Was hätte ich dann davon ?
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Wie wär’s damit : Gute Musik ist, wenn Kopf und Gefühl zusammenstimmen. Wenn das ein moderner Komponist kann : her mit ihr oder ihm !
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Und wenn ich’s vorerst nicht verstehe : bitte um Erklärung, darum.
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Baldrian !
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