Was bringt Ultraschall Berlin 2023?

Tief im Westen, vis-à-vis von Messe und Avus, startet hinter der monotonen Backsteineleganz des Rundfunkhauses das Festival Ultraschall Berlin. Zu was? Wozu? Warum?

Dass Ultraschall im preußisch nüchternen, weitgehend dekonfessionalisierten Berlin mit einem katholizierenden Werk startet, mutet an wie ein Zug fröhlicher Perfidie seitens der Festivalleiter Göbel und Pöllmann. Liza Lim, Australierin, 1966 geboren, thematisiert in Mary / Transcendence after trauma Stationen aus Marias Leben. Sie tut dies episodisch verdichtet und dimensional geweitet, womit Lim zum einen Ausdauer im Kampf um die Aufmerksamkeitspannen der Zuhörer beweist, zum anderen die an drogeninduziert Visionäres erinnernden Einbrüche von Bläserbuntheit fest im Verlauf verortet. Das Stück läuft in einer Art Lichtstrom aus. An den Pulten das Deutsche Symphonie-Orchester, vorne steht Zagrosek.

Ich höre die Konzerte im Stream auf Deutschlandfunk, meist live, eines nachträglich vom Mediaplayer des Festivals.

Festival und Chuzpe: wunderliche Wiederholungszwänge

Wirkt die religiöse Thematik bei Lim letztendlich aufgesetzt, so spielt Carola Bauckholt, Jahrgang 1959, in Brunnen mit der Ikonographie des Cellokonzerts. Séverine Ballon meistert den Solopart, der einen wunderlichen Minimalismus mit dezenter Eleganz verbindet. Das Stück, karg und auratisch, nie laut werdend, erkämpft sich seinen eigenen Ton. Und meidet jeden subjektiven Ausdruck. Aber zu was? In der überlangen Monadologie VII (2009) von Bernhard Lang (Linzer seit 1957) überrascht schließlich der erzählerische Instinkt. Auch dramaturgische Chuzpe lässt sich dieser siebten Monadologie nicht absprechen. Die Detailform besitzt allerdings geringen Eigenwert. Letztendlich exponiert Monadologie VII kaum mehr als unergiebige Wiederholungszwänge. Lothar Zagrosek dirigiert im Großen Sendesaal des Rundfunkhauses mit bewährter Tatkraft und Übersicht.

Foto: Instagram Ultraschall Berlin / Fotograf: k.A.

Von der Kategorie Unergiebiges gibt’s bei jedem Festival einiges. Diesmal triffts das zweite Orchesterkonzert, es spielt das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, gleichfalls im Großen Sendesaal.

Die Schwedin Malin Bång ist mit avgår, pågår (2014) zu hören, einem Stück von gesuchter Banalität. Heuer hebt Bång Geräuschfunde aus Göteborg unter, ohne dass das Werk dadurch ein Mehr an Konsistenz oder Substanz gewänne. Wenn die Ukrainerin Anna Korsun in ihrem 2016 komponierten Werk In einem anderen Raum eine Klangwolke von amorph fluktuierender Umrissgestalt mit Smartphone-Zuspielungen überblendet, so folgt daraus wenig mehr als nichts. Noch bedenkenloser huldigt Stufen der Ideen (2021) des Moskauers Sergej Newski einer gewissen Substanzabsenz. Das Sprechstück nach einem Wort für Wort vorgetragenen späten Text von Tolstoi erhebt sich auf einem Teppich zurückhaltender Orchestergesten (Sprecher: Jakob Diehl).

Vom sinnfällig Anekdotischen: das Fleuchende und Flatternde

Befremdlich zudem, wie Newski als Beispiel eines sich wohlverhaltenden und somit festivalwürdigen russischen Kulturschaffenden dargestellt wird. Vom Malheur des Misslingens zur Palme des Gelingens: Die gebührt an diesem Abend der Weißrussin Oxana Omelchuk. Ihre Harmoniemusiken (2019) greifen witzig auf entsprechende Stücke der Mozart- und Beethoven-Zeit zurück. Eine Ukrainerin, einen Russen und eine Weißrussin vereint zu programmieren muss nicht, aber kann wohlfeile (Programm-)Symbolpolitik sein. Die Norwegerin Kristine Tjøgersen huldigt in Between Trees (2021, deutsche EA) dem Wald als Lebensraum des Fleuchenden und Flatternden. Die humorvolle, sich Mikro- und Makrokosmos zuwendende Haltung übertrifft jede Tondichtung von Strauss an anekdotischer Sinnfälligkeit um Längen. Repräsentiert ein solcher Piktoralismus das neueste Biedermeier?

Auffällig an Ultraschall 23 ist die im Vergleich zu den Vorjahren geringere Anzahl an Uraufführungen. Dafür rücken, besonders bei den kleineren Formaten in den heimeligen, dezentralen Spielstätten Heimathafen und Silent Green, Kompositionen der letzten eineinhalb Dekaden in den Blickpunkt, und zwar als knappe Sieben-bis-Zehn-Minuten-Werke, was derzeit sowieso die verbreiteste Spezies in den Neue-Musik-Habitaten darstellen dürfte.

Foto: Instagram Ultraschall Berlin / Fotograf: k.A.

So bündelt im Heimathafen Neukölln das Zafraan Ensemble sieben kleinere Werke der frühen und mittleren Zehnerjahre. Generell sind Festivalbesucher hart im Nehmen. Zumal ästhetischer Verdruss meist mit Erkenntnisgewinn einhergeht. Allerdings nicht immer, wie das ziellose J’étais un désert von Elsa Biston zeigt. Ähnlich von Simone Movio das anspruchslose, nicht allzu viel Zauber ausübende Incanto XI. Noch mehr Kritik gefällig? Auch bei der Spanierin Elena Mendoza und der Chinesin Ying Wang, beide schaffen es derzeit auf die Programmliste fast jeden Festivals, legt der Rezensent eher nicht aus purer Freude einen Vierfach-Toeloop hin. Vergleicht man die harsche Unruhe von De dentro afuera mit Wangs routiniert klangbewegter Fingerübung Glissadulation, ist Mendoza besser.

Memory und margine: jolts, unfoldings, tastes

Faszinierender sind von der Französin Claire-Mélanie Sinnhuber Sept exceptions. Diese „sieben Ausnahmen“ exponieren Tugenden wie Genauigkeit und Kürze. Es sind sauber ausgehörte Miniaturen, bei denen es auf jeden Klangmoment ankommt. Einer der besten Festivalbeiträge. Die von Michelle Agnes Magalhaes mit Haptik und Klangfantasie aufgeladenen Lorca-Fragmente sind wenigstens schöne Beispiele einer Gedankenhelle, die intim und aggressiv zugleich wirkt. Dagegen erweist sich End run von Helga Arias Parra als farbreich, aber ohne jede dramatische Spannung.

Überraschungen hält das Konzert am Sonntagnachmittag mit dem Trio Recherche bereit. Weniger wegen einer viertelstündigen Quality Time mit den Altmeistern Xenakis (Dikthas, 1979) und Scelsi (Maknongan, 1976). Sondern wegen Clara Ianotta, die zu recht zu den mittlerweile meistgespielten neuen Komponistinnen gehört (die komponierenden Männer sind hier eingeschlossen), was Memory Jolts, untertituliert Flashes of Pink in the Brain aufs Neue beweist. Hier wird der Klang unmittelbar Subjekt, raumsausgreifend und bedeutungserzeugend, bis er eine bedrohliche Qualität gewinnt. Charakteristisch für Ianotta, dass Memory Jolts zwischen übermenschlicher Ferne und irritierender Nähe hin- und herzuspringen scheint. Etwas schwächer In margine von Francesca Verunelli (2022), das der Aura aus springendem Spiccato und Flageoletts vertraut, die wie Regenvorhänge durch den Saal wehen.

Foto: Instagram Ultraschall Berlin / Fotograf: k.A.

Noch reduzierter, aber auch selbstamputierter in seiner meditativen Dämpfung zelebriert Unfoldings (2022) von Sarah Saviet und Joseph Houston Klangüberlagerungen auf engstem Raum und innerhalb eines gleichbleibend engen Dynamikkorridors. Die zweite Überraschung? Kommt von Taste von Rebecca Saunders und Enno Poppe. Die zwei komponieren hier Stücke des jeweils anderen weiter und fügen das Ergebnis dann zusammen. Ich habe die UA 2022 im WDR gehört, war damals ratlos und genieße jetzt Uneindeutigkeit und kalkulierte Umtriebigkeit des 20-Minuten-Werks. Der Stückverlauf scheint denkbar frei. Häufen sich Vibratoschluchzer und seidige E-Saiten-Glissandi, hält das Klavier mit rechten Haken und Molotow-Cocktail-Skalen dagegen. Eine Tour de Genuss ohne Reue (Sarah Saviet und Joseph Houston).

Gerade kleineren Formationen gelingen immer wieder Musik-Funde abseits ausgetretener Programmpfade. Andererseits spült die Programmierroutine angesagte Hits von Festival zu Festival. Novitäten etwa von Lachenmann oder eben Taste hörte man im Vorjahr mit den gleichen Interpreten auch in Witten.

Das dritte der Orchesterkonzerte vereint drei Werke, die unterschiedlicher nicht sein können. Man ist zurück im Großen Saal des Rundfunkhauses. Es spielt das DSO. Vis-à-vis Avus, Messe, Autobahn.

Die Spanierin Elena Mendoza präsentiert mit Stilleben mit Orchester (2021, mit zwei „l“, deutsche EA) nichts, was man nicht so schon ähnlich gehört hätte. Gemächliche Abläufe, rhythmische Steigerungen, Erweiterung des orthodoxen Orchesterapparates durch Gebrauchsgegenstände, hier durch Küchenutensilien. Ganz anders York Höllers Doppelkonzert (2022). Das strahlt formale und inhaltliche Klarheit und Eleganz aus. Dazu kommt die klassische Beredsamkeit des Konzerts: erstens Virtuosität, und zweitens die latente Dramaturgie von Soli und Tutti. Höller favorisiert Form, Prozess. Das Ergebnis ist bestechend. Nicht zuletzt erscheint der Verzicht auf einen sprechenden Titel sympathisch. Höllers Doppelkonzert spielen Marie-Elisabeth Hecker (Cello, flink doppelgriffig) und Martin Helmchen (Flügel, glasklares Passagenzeug). Ying Wangs Talent, belanglose Stücke durch Titelwahl und Selbstaussagen uraufführungsgenehm zu machen, schlägt auch in 528 Hz 8va zu Buche. 528 Hz 8va offeriert grundlose Fröhlichkeit und gutgelaunten Hyperaktivismus (2021), ist teilweise auch vergnüglich wie eine Schnellpolka aus dem Hause Strauß, nur leider nicht so kurz. Die US-Amerikanerin Karen Kamensek leitet, so weit über Kulturradio verfolgbar, tadellos.

Insgesamt kein schlechter Festivaljahrgang bei Ultraschall.

Die Übertragungen sind teilweise noch auf der Festivalseite nachhörbar.


Weitere Ultraschall-Kritik: „Sondern pure Spielfreude“ (Hundert11), „Pure psychische Wucht“ (Gerald Felber), „Eher ein verordnetes Glück“ (Isabel Herzfeld)