Ich reiche zwei Winterabenteuer mit dem Deutschen Symphonie-Orchester nach.

Am 12. Dezember debütieren drei Frauen beim DSO. Am 19. Dezember dirigiert Ticciati ein Konzert, wie ich noch keines gehört habe.

Zum 12. 12, Sonntagabend. Ruth Reinhardt, Diana Adamjan, Selina Ott, Dirigentin, Geigerin, Trompeterin, debütieren. Es ist eines der seltenen Symphoniekonzerte in der Philharmonie, in das man für 12 Euro reinkommt. Und für 28 Euro in Reihe 1 sitzen kann. Das Mendelssohnkonzert spielt Diana Adamjan, 21, Menuhin-Preisträgerin.

Sie spielt geschlossenen Augs. Blinzelt ab und an zur Dirigentin. Am Anfang sind da eckige Figurationen, kleine Nervositäten. Spätestens beim Bläserthema ist sie da. Dann Durchführung, die Kadenz, dann Reprise. Adamjan spielt die kontrollierte Schwärmerei des zweiten lyrischen (Bläser-)Themas aus, hat Sinn für den Überschwang des Schlusses. Das Andante erklingt zart, nervös erfüllt. Wie sie phrasiert, da umschreibt sie die musikalischen Gedanken eher. Adamjans Ton: lyrisch, verhangen, schwärmerisch im Forte, doch stets kontrolliert. Im Finale finden Solisten und Orchester ein paar Dutzend Takte nicht zusammen. Adamjans Spiel: trotz aller Verhaltenheit intensiv. Introvertiert. Überhaupt ist da eine sympathische Versunkenheit. Dirigentin Ruth Reinhardt leitet vorher aufmerksam das Vorspiel zu Mussorgskis Chowanschtschina. Aber das Violinkonzert spielt das DSO mit pauschalen Tuttis, beim neuen Thema im Finale allerdings wie wonniglich durchsonnt.

Diana Adamyan
Diana Adamyan marschiert übers Podium

Das Kleid der Trompeterin Selina Ott verursacht in meiner näheren Umgebung Äußerungen kennerhafter Anerkennung. Wovon sich Ott nicht irritieren lässt, denn sie bläst Incantation, thrène et danse von Desenclos (1953) tadellos. Auf das Stück war ich gespannt. Aber thrène (Klagelied) schallt allzu diskret und Verzauberung und Tanz driften, zugleich Fanfare und Rezitativ, in beliebige années-cinquante-Eleganz ab. Ott bläst das lustig und präzise. Aber jetzt. Ruth Reinhardt stellt sich bei Mussorgski, Mendelssohn, Desenclos unauffällig hinter die jeweiligen Werk-Charakteristiken. Aber. Hindemiths Konzertmusik op. 50 gibt sie mächtige Polyphonie. Hält jeglichen Neobarock von ihm fern. Der Klang findet zu prachtvoller Nüchternheit. Dirigieren tut sie elegant, ohne Herrschaftsgesten. Der schwere Musikstrom der Celli (bei sehr breit) ist – neben der 21-jährigen Adamjan – der Haupteindruck des Abends, oder?

Ticciati: Beethoven, das Klima und die filetierte Pastorale

Eine Woche später. Neu ist das Konzertformat „Neues vom Tage“ irgendwie schon. Beethovens Pastorale wird in drei Teile geschnitten wie eine Südtiroler Hartwurst. In die sich öffnenden (Klang-)Freiräume dringt Musik junger US-Komponisten. Ein solches Konzert habe ich tatsächlich noch nie gehört. Stückgrenzen zerfließen. Seit vielen Jahrzehnen festgeschweißte Werkblöcke brechen auf. Aber so richtig hinhauen tut das heute Abend in der Philharmonie noch nicht. Woran liegt es? (Zumal die Pause in der Konzertmitte dem Experiment etwas den Zauber nahm.) Ich höre über Kulturradio.

Aber wie der Geiger Pekka Kuusisto sich äußerst Urtext-widrig in den Schluss von Beethovens Szene am Bach drängelt, das ist lustig und zeigt das Potenzial, das solche kreativen Angriffe auf eine altehrwürdige Konzertpraxis besitzen. Mach dich locker, Klassik. Dass der Konzertabend eher so-so gerät, liegt zum einen an einer, zumindest am Radio, sterilen Beethoven-Sechsten, in der ausgefeilte, manieristisch wirkende Detaildynamiken und trockene Tongebung einen natürlichen Spielfluss verhindern. Zum anderen liegt es an der Stückauswahl. Außerdem gehts heute um den Klimawandel, Mensch, Natur, etc.

Bryce Dessner lässt sein Violinkonzert, das ohne Pause auf das Beethovenandante folgt, in Vivaldi-Geschäftigkeit abspulen. Es ist nett anzuhören. Laut Komponist wurde es von einem Essay mit dem Titel „Anthropologie des Wassers“ angeregt. Weiter der Komponist: „Oft gewann ich musikalische Anregungen durch das Meer, das eine konstante Inspirationsquelle für Künstler ist“. So viel zum Thema sinnvolle Äußerungen von Komponisten. Die Kadenz ist von beachtlicher Substanzlosigkeit.

Nach der Pause pausiert die Pastorale. Stattdessen hört man von Brett Dean die Pastoral Symphony. Das ist gut gemachte Musik, von erfahrener Komponistenhand durchgestuft in einem Stil, der von Berlin bis Bali als modern zu erkennen ist. Hart am Kitsch vorbei zielt danach Syntax of Snow von Matthew Burtner. Hier wird mit einem Sensorhandschuh in einer mit Eis gefüllten Schale gewühlt, während die andere Hand ein Glockenspiel betätigt. Doch das Stück ist so minimalistisch, so handgemacht. Es trägt. Es fasziniert. Dann folgen die zwei letzten Sätze der Pastorale.

So weit so gut. Übrigens, wurde das Ganze wirklich so spontan programmiert, wie annonciert?

Denn Kuusisto tourt mit dem Dessnerkonzert seit Wochen durch die westliche Welt. Und der Finne stand schon seit Sommer als Solist fest. Wie auch immer, womöglich hat Ticciati auch nach London gelinst. Dort präsentierte das Philharmonia (das Orchester von Klemperer) jüngst gleichfalls die Idee eines „Klima-Konzerts“. „Human/Nature: music for a precious planet“ ist dort eine Serie betitelt. Gespielt werden in London Pastorale und – genau – Dessners Violin Concerto. Schwer zu beurteilen auch, ob die Musiker hier doch nur auf einen (Klima-)Zug aufspringen, der gerade schwer im Trend liegt. Immerhin tourt das DSO im Februar mal wieder durch ganz Europa und wird dabei doch sicherlich ein gutes Dutzend Mal mit versammelter Mannschaft in den Flieger steigen. Schein und Sein…

Fazit: In den Details ist das noch erheblich nachjustierenswürdig. Aber Potenzial hat das „Neues vom Tage“-Konzept: die Idee vom spontanen Programmieren, weg vom starren Werk-Ganzen vermeintlich unantastbarer Meisterwerke, und der Versuch, Tagesaktualität herzustellen, so heikel das in der Praxis auch sein mag.

Im Pausengespräch auf Kulturradio ist Kai Luehrs-Kaiser zu hören. Den hör ich immer gerne quasseln.

Nachhören auf RBB: „Neues vom Tage„!


Weitere Besprechung: „Drei Debüts“ (Frederik Hanssen)