Zeitgenössisch, klingt schön und ist sehr, sehr gute Musik. Geht das zusammen? Ja, wenn die Komponistin Gubaidulina heißt.

Offertorium von Sofia Gubaidulina scheint eines jener Werke zu sein (Uraufführung 1981), die dem Zahn der Zeit trotzen. Zwischen Versenkung und Konstruktion, zwischen Religion und Expression steht das Werk. Offertorium wird gespielt. Es wird geschätzt. Da kommt dem 37-minütigen Stück sicherlich auch seine einprägsame Konstruktionsidee zupass. Ein Thema von Bach (aus dem Musikalischen Opfer) wird Stück für Stück dekonstruiert, bis nur noch ein Ton übrig ist. Mit Einsetzen des abschließenden Streicherchorals läuft der Prozess umgekehrt. Das ist einprägsam, suggestiv, lädt insbesondere in Verbindung mit der religiösen Komponente des Stücks zu Spekulationen ein, ohne dass diese sich in den Vordergrund drängten.

Eine ungeheure Klarheit geht von dem Werk aus. Sofort erkennbare Abschnitte, die jedoch ohne starre Abgrenzung fließend ineinander übergehen, lösen einander ab. Eine Piccoloflöten-Passage, unterstützt vom Xylophon, klingt fast ausgelassen. In den Blecheinwürfen mischen sich lakonische Wucht und moderner Klang. Und plötzlich begeistern frei fließende, polyphone Passagen, in denen Klänge und Linien kommunizieren. Andere Aspekte verstärken den Eindruck von Klarheit. Eine Art Solo-Kadenz steht genau in der Mitte des Werks. Und das Einsetzen des orthodox inspirierten Streicherchorals hat sogar Reprisencharakter. Ein Schelm, wer beim Rückgriff auf Bach und religiöse Aspekte nichts dabei denkt. Vor dem Hintergrund der spätsowjetischen 80er Jahre ist solch ein Rückgriff auch als Rückzug in die innere, Lebensfreiheit und Freiheit der Kunst rettende Emigration zu verstehen.

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So einfach wie Gidon Kremer spielt keiner. Sein Spiel wirkt auf einen Schlag „richtig“. Jeder Ton tönt abgewogen – nach Gewicht, Dauer, Bedeutung. Stets ist Kremers Ton das Zentrum. Er findet in der Kadenz zu einer ekstatischen Sachlichkeit. Er spielt mit ergreifender Verhaltenheit. Wie grandios sich Kremer zurücknehmen kann, der sich ja schon immer gegenüber dem Werk zurücknimmt, zeigt dann der verinnerlichte Schluss, der fast zur Versenkung wird, in dem Kremer das Violinkonzert namens Offertorium auslöscht. Es ist eine wild konzentrierte Interpretation. Man kann das Werk anders spielen – leidenschaftlicher, so wie Vadim Repin vor Jahren mit den Philharmonikern -, aber kaum ergreifender.

 

Die anwesende Komponistin erhebt sich nach mehrmaliger Aufforderung von ihrem Sitz. Bravorufe.

David Zinman gibt Einsätze beidhändig. Das Konzerthausorchester klingt bestens vorbereitet und ist Gidon Kremer ein Partner auf Augenhöhe. Offertorium ist fast 40 Jahre alt. Man hört es dem Stück an, aber es gibt wenige vergleichbare Werke, die so bravourös altern.

Als Zugabe spielt Kremer eine Serenade von Valentin Silvestrow. Ein retrospektives, doch in seiner kummervollen Einfachheit auch intensives Stück ist das.

Die Sinfonie Nr. 9 von Schubert nach der Pause ist heute nur das Nebenwerk. Zinman nimmt das Werk rasch, kurzphrasiert und kurzatmig. Gefallen tun immerhin die lebhaften Holzbläser im Scherzo und Hörner und Posaunen im Finale. Doch als Ganzes war die Wiedergabe schlecht.

Das Kremer-Festival unter dem Titel Hommage an Kremer ist eine hübsche, spannende, verdienstvolle Sache. Bis nächsten Sonntag gibt es Kremer pur im Konzerthaus. Kremer ist, trotz Mutter, trotz Hahn, trotz Jansen, trotz Vengerov und vielen anderen vielleicht doch der prägende Geiger der Gegenwart.


Weitere Besprechung: Betörend meditativ (Hundert11)