Die Staatsoper Berlin bringt einen neuen Falstaff. Regie führt Mario Martone. Die musikalische Leitung hat Daniel Barenboim.
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Martone lässt die Zuschauer wenigstens lachen.
Martone, Italiener, u.a. an der Scala aktiv, setzt die Glanzlichter mit gekonnter Hand. Wir sehen einen herrlich verlotterten, männlichen Falstaff. Wir sehen vier quietschvergnügte, unternehmungslustige Damen. Wir sehen eine prickelnd frische Pool- und Planschszene (2. Bild, 1. Akt). Danach und davor
herrscht aber gedankliche Armut, assistiert von bühnenbildnerischen Grässlichkeiten (Margherita Palli). Die werden bevölkert von dekorativ sich räkelnden Autonomen und Punks. Und die waren so ungefähr auf mittleren Bühnen in den 90er-Jahren der letzte Schrei. Die Zweiteilung der Bühnenwelt in siffige Anarchos und honette Bürgerliche ist lediglich optisches Leckerli. Sonst nichts. Denn für das Verständnis der Handlung, für den Blick dahin, wo das bange Herz der Protagonisten schlägt, bringt sie gar nichts. Sieht man Martone bei seiner Arbeit zu, schätzt man plötzlich Flimms altväterliche Keckheit, die doch, es sei lobend erwähnt, eine gewisse Qualität nie unterschreitet. Es reicht halt nicht, einen patenten Plot um eine extrovertiert-schräge Titelfigur zu basteln und den Rest als Kulissendeko mitlaufen zu lassen.
So ist Martone dann doch der Märchenonkel, der hier eine großartige Oper versemmelt. Obwohl, nett anzusehen ist das ja schon, wie versiert da einer die sich um Vino und Amore drehende Buffo-Handlung abschnurren lässt. Nur ist die pompöse Ruinenkulisse (für was steht die eigentlich?) derart bekloppt in Szene gesetzt, dass einem sämtliche Verdi-Haare zu Berge stehen. Und aus der zwielichtigen Maskeradenszene im Park zu Windsor spricht pure Hilflosigkeit. Klar. Das ist witzig, meist nett anzusehen, clever-routiniert durch den Regie-Wolf gedreht. Reicht das für Verdi? Für Falstaff? Für Boito-Shakespeare? No, wie man mit Falstaff, sekundiert von einem trockenen Achtel mit Vorschlag von Fagott und A-Klarinette, sagen muss. Dabei seien die Meriten dieser pragmatischen, handfesten, flott-direkt auf Lacher kalkulierten Inszenierung gar nicht verschwiegen. Sie lauten Publikumstauglichkeit, Publikumstauglichkeit, Publikumstauglichkeit.
Die Sänger: Michael Volle, Daniela Barcellona, Barbara Frittoli, Nadine Sierra, Francesco Demuro, Alfredo Daza
Gutes gibt es von den Sängern zu berichten. Man hört einen prächtigen Falstaff, schnippische Damen und vokalköstliche Jungverliebte.
Doch der Reihe nach.
Michael Volle ist ein Falstaff diesseits der männlichen Wechseljahre. Er trägt Jeans, Koteletten, Lederjacke. Der Bauch: kein Wanst, nur eine Ausbeulung. Ein feuriger Alt-68er. Ein Mann, bei dessen kreisendem Becken die Frauen von Windsor innehalten beim Wäsche-Sortieren. Bei Sir Volle hat das Verlotterte unbestreitbar Würde. Und Sex-Appeal. Dieser Falstaff ist pure Anarchie, ein gerissener Gefährder von Sitte, Anstand und Wohlstand. Vokal stehen dem audace e destro Cavaliere eine große Stimme von voluminöser, crescendierender Schubkraft zur Verfügung.

Eine Stimme voller Wut und Gedankenschärfe, gesättigt von Witz und ränkereicher Rhetorik und garniert mit impulsiver Deklamation. Darf man mäkeln? Zu Beginn der Jammerarie Mondo ladro. Mondo rubaldo. Mondo reo fehlen dem Piano und dem Rezitativ Klang. Da ist wenig Italianità, viel deutsche Knurrigkeit. Volle ist ein Expressionist, kein Techniker. Gut aber, dass Wort- und Silben-Pointierungen zwar hervorstechen, aber immer der Bedeutung dienen. Michael Volle ist ein Falstaff enorme, immenso.
An Falstaffs Sturz arbeitet das aufgeweckteste Damenquartett von ganz Windsor.
Barbara Frittolis Alice ist eine lebenslustige, wortgewandte, kultivierte und verheiratete Dame mit Klasse. Sie bringt eine feine, biegsame Stimme weichen Gepräges mit, die sie mit viel Charme einsetzt. Als Mrs. Quickly vereint Daniela Barcellona den satten Klang eines Achtzylinders mit dem Temperament einer mit allen Wassern gewaschenen Signorina. Als Liebesbotin bringt sie den Buffo-Turbo erst auf volle Umdrehungszahl, flirten tut sie mit Volldampf – halb ist es Theater, halb sie selbst -, aber immer bleibt sie Herrin der Lage. Eine Quickly zum Hinschmelzen. Die fesche Meg (Katharina Kammerloher) bekommt zweierlei verpasst: von Regisseur Martone ein paar selten dämliche Tanzeinlagen und von Ursula Patzak immerhin schnieke Sommerklamotten.
Ford (Alfredo Daza) landet erst mit seiner Intrige bei Falstaff krachend auf dem Hosenboden der nackten Tatsachen. Dann macht ihm die schlagfertige Tochter einen Strich durch die Heiratsrechnung. Daza singt das mit der Emphase des Vaters, der Inbrunst des Betrug und Verrat witternden Ehemanns und der theatralischen Flamboyance des neureichen Wohlstandsbürgers.
Ein vokaler Volltreffer sind Francesco Demuro und Nadine Sierra als schwer verliebte Turteltauben. Er ist ein adretter Beau mit umwerfender Stimme und innigem Ausdruck, sie ein Ereignis an Liebenswürdigkeit und Timbre. Der feinkörnig leuchtende, wie angehauchte Klang erinnert an Mirella Freni. Fentons Dal labbro il canto ist eine Lehrstunde eines zwischen Gefühl und Intelligenz vermittelnden Gesangs eines lyrischen Tenors. Der von Ford protegierte Dr. Cajus ist ein im Rennen um Nannettas Hand von vornherein chancenloser Zappelphilipp (Jürgen Sacher). Das aus Gründen der Ehre die Seiten wechselnde Diener-Duo bilden der hager-alerte Stephan Rügamer (Bardolfo) und der wunderbar tranige Zottelbär Jan Martiník (Bardolfo). Beide sind Typen, die cool aussehen und Muffensausen haben, wenn’s drauf ankommt.
Daniel Barenboim herzt beim Applaus Mario Martone wie ein Rumpelstilzchen. Zuvor dirigiert Barenboim eine lebhaft und drängend turbulente, lustvoll pointierende, den Verdi-Pinsel etwas breiter als gewöhnlich führende Staatsopernpremiere.
Uneingeschränkte Bravi für Sänger und Musiker. Viel Bravo, einige wenige Buhs für Martones Regieteam. Musikalisch geglückt, szenisch leichtfüßig, im Kern dann aber doch überwiegend unglücklich agierend, beweist der neue Berliner Falstaff wenigstens, dass Verdis Commedia lirica nicht nur eine Oper für Kenner ist. Hier darf jeder lachen.
Francesco Demuro hab ich schon erlebt und war begeistert. Danke für die Falstaff-Neuigkeiten aus Berlin.
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Martone hat die Mailänder Inaugurazione der Saison 17/18 inszeniert. Die war auch nicht besser (Andrea Chénier mit Netrebko und Eyvazov)
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Insgesamt ein guter Falstaff, fand ich. Volle war überragend. Manchmal klang es etwas nach Holländer, der es endlich ins Leben geschafft und nun seinen Spaß hat; vielleicht war es gerade das, was ihn aus dem italienischen Ensemble herausstechen ließ. Ein fantastischer Sängerdarsteller. Welch ein Glück, daß er in Kleinmachnow wohnt, da werden wir noch mehr von ihm sehen.
Barenboim dirigierte mit etwas schwererem Pinsel, zwar durchweg flott, jedoch nicht so leicht und fein spritzig ziseliert wie Abbado in den Jahrhundertaufführungen hier vor 20 Jahren. Die Schlußfuge nahm er erstaunlich langsam, dadurch wurde sie enorm durchhörbar und nicht verhetzt, wie sonst manchmal. Vielleicht hatte ihm Zubin Mehta aus Erfahrung gesagt : paß auf, die kann auch total danebengehen, wenn du nicht auf Zack bist. Barenboim nahm da jedenfalls ganz entschieden das dirigentische Heft in die Hand.
In der Schlußszene habe ich die Berliner Flughafenruine erkannt. Rolltreppen, die ins Nichts führen, und Nachtschwärmer, die die Gegend zum Verlustieren benutzen. Kann man so machen. Auch wenn es total unromantisch war, und das Hornsolo zu Beginn (beabsichtigt oder nicht ?) wie ein corno da caccia klang, das zur Jagd auf Falstaff blies. Nicht die Spur von Eichenromatik wie sonst.
Zur Inszenierung kann ich sonst wenig genaues sagen : im dritten Rang Seite sieht man bestenfalls die Hälfte. Wenn man dorthin geht, nur in die erste, oder gleich in die letzte Reihe ! Da kann man wenigstens stehen und sieht wieder mehr. Aber nicht dazwischen. Klanglich war es allerdings sehr schön.
Ein wenig mäkeln könnte ich allenfalls über den streckenweise unhörbaren Pistola des Jan Martinik, der nicht gut rüberkam. Hier braucht es einen kräftigen, derben Baß, der seine prolligen Einwürfe machen kann, keinen Doktor Grenvil in Lederklamotten. Und Dr. Cajo konnte manchmal seinen Text nicht. Frittoli und Volle schüttelten am Ende jedenfalls ehrlich dankbar der Souffleuse die Hand.
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Publikumstauglichkeit ist übrigens wichtig bei Falstaff. Der ist nie ausverkauft, noch nicht einmal gestern bei der Premiere. Wenn man den nur für die Kenner inszeniert, wird er bald gar nicht mehr aufgeführt. Und das wäre äußerst schade.
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Fulminante Neu Inszenierung von Martone und seinem Team. Bravi! Endlich bekommt man eine Oper zu sehen bei der der geneigte Zuschauer nicht erst zum Programmheft greifen muss, um zu kapieren wer was macht und sagt und nicht macht. Heutzutage sind solche Inszenierungen rar gesät. Flott erzählt, mit sicherer Hand auf die Bühne gebracht, fulminant gesungen, allen voran natürlich von Meister Michael Volle – Opernherz was willst du mehr? Schon zur Pause gab es donnernden Applaus. Wann hat man das zuletzt in der Staatsoper erlebt
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Und die Beine der ersten Nannetta waren wirklich toll. Sonst hatte sie aber nicht viel zu bieten. Nächste Saison kam wer : slavka zamecnikova, die sang mit Mehta als Einspringerin die Nannetta-Arie im 6. Bild so lyrisch, melodisch, wie ich sie seit 20 Jahren nicht mehr gehört habe. Sie war eine echte Nannetta, mit Schmelz, Gefühl Liebe und allem. Das gibt es nicht so häufig.
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Slavka Zamecnikova, aus Preßburg. Oder Bratislava, heutzutage.
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