Sex sells. Das gilt auch auf der Opernbühne.
Franz Schrekers Die Gezeichneten funktionieren nach dem gleichen Rezept wie Schrekers andere Erfolgsopern. Der Mix heißt: Eros, Kunst, Gewalt. Das Werk sei „in Problemen der Sexualpsychologie verankert“, schrieb Paul Bekker 1922. Thematisch zehren Die Gezeichneten noch von der Vorliebe des 19. Jahrhunderts für die verruchte Renaissance – die Oper spielt in Genua, tiefstes Cinquecento -, im Künstler- und Eros-Thema schließt sie ans Fin de Siècle an. Musikalisch lässt Schreker es krachen, breit strömt das Orchester, meisterhaft ausdifferenzierte Klangwogen verwischen die Grenzen von Gut und Böse, der turbulente Modernismus seiner Partituren entfaltet auch hier seine berühmt-berüchtigte Sogwirkung.
Das betrifft auch die Sänger. Schreker pumpt seine „Stigmatisierten“-Oper voll mit deklamatorischer Parlando-Energie à la Salome. Sensationell der Sog und die Kraft des Orchesters. Was halbwegs Informierte als „parfümiert“ abtun, ist vielmehr giftiges Schimmern, gewitterleuchtendes Brodeln, hat frappante Weite und Musikgeschichte im Atem.
Krzysztof Warlikowski inszeniert nun für die Bayerische Staatsoper München die diesjährige Festspielpremiere. Warlikowski nimmt Schrekers Komplexität auf, antwortet ihr auf Augenhöhe, und das mit einem Blick der Kühle. Man befindet sich in einer moderndüsteren Hotel-Lounge. Rechts die Bar, zentral findet sich eine Museumsvirtrine, in der halbnackte Damen lagern. Auch die Malerin Carlotta steigt zum Sterben in die Vitrine, wird so im Tod zur Kunst. Carlottas Dienerin ist eine sexy Krankenschwester. Man sitzt auf coolen Stahlrohrsesseln. Wenn in der Atelierszene Carlotta und Alviano zueinander finden, bevölkern mäuseköpfige Menschenwesen die Szene, dann zeigt Warlikowski ein Gruselkabinett voll tiefenpsychologischer Weiterungen – nicht der schlechteste Ansatz für Schrekers durchsexualisierte Sujets.
Im zweiten Akt visualisiert ein in den Hintergrund geschobener Boxring den Lebenskampf auf der Vorderbühne (die Statisten kommen vom TSV 1860), im dritten wandelt sich die Scheinwelt der Kunst, Schrekers „Elysium“, in einen Kunstraum à la Tate Modern (Bühne Malgorzata Szczesniak). Der dritte Akt gerät schwächer, überantwortet sich fix dem Filmfundus des Grauens, was stets heikel ist, da bewegte Bilder dazu tendieren, bewegter Musik den Lebenssaft auszusaugen. So auch hier. Doch alles in allem macht Warlikowski ernst mit dem komplexen Musiktheater, nimmt den Ball auf, den Schreker ihm zuspielt. So scheint Paul Bekkers Satz, dass die Oper „das schöpferisch Stärkste und Eigenkräftigste ist, was uns seit Jahren auf der Opernbühne begegnete“, nicht ganz fehl am Platz.
In München steht nun ein höchst achtbares Ensemble aus Sängersolisten für Schreker bereit.
Die Künstlerin, die dem Faszinosum des Hässlichen erliegt, das ist die Malerin Carlotta, der Catherine Naglestad Größe der Persönlichkeit und Tiefe des Gefühls mitgibt, hilfreich unterstützt von ihrem Sopran voller Saft und Kraft. Der durch ihre Liebe zum Leben erweckte Krüppel Alviano findet in John Daszak (in München mit wuchernder Stirnform) seinen Meister. Flexibel und hell ist sein Tenor, zudem höhensicher und belastungsfähig.
Den bösen Finger und Frauenverschlinger Tamare verkörpert Christopher Maltman, als erprobter Darsteller des Don Giovanni fällt hier der Apfel nicht weit vom Stamm. Den Podestà gibt Alastair Miles mit rothaariger Mähne und erratischer Brille. Der Wagner-erfahrene Tomasz Konieczny singt einen autoritären Adorno (und den Capitaneo im dritten Akt).
Die adeligen Lustmolche singen Matthew Grills (als Guidobaldo), Kevin Conners (Menaldo), Sean Michael Plumb (Michelotto), Andrea Borghini (Gonsalvo), Peter Lobert (Julian) und Andreas Wolf (Paolo). Aus dem Heer der weiteren Nebenfiguren seien insbesondere Heike Grötzinger (als Martuccia), Dean Power (Pietro, mit angenehm leichter Tenorstimme), Paula Iancic (Ginevra), Galeano Salas (Jüngling), Selene Zanetti (Ein Mädchen) und die Senatoren Ulrich Reß, Christian Rieger und Kristof Klorek (allesamt vokal erfreulich präsent) genannt.
Dirigent Ingo Metzmacher wühlt sich mit Hingabe durch die labyrinthischen Stimmgefüge der Partitur und erweist sich schlussendlich, Details und Bögen zusammen spannend, als deren unumschränkter Meister. Man ahnt es, auch diese Neuproduktion der Gezeichneten wird Schreker nicht dauerhaft in den Spielplänen verankern. Doch es ist bitter nötig, das liebe Opernvolk von Zeit zu Zeit mit der Nase auf Schrekers abnorme (Welt-)Klasse stoßen.
Gesehen und gehört auf Staatsoper Live.
In der Tat, eine sehr assoziative Inszenierung, die sich Schrekers Hauptwerk mit dem gebührendem Ernst annimmt. Insofern hat das Nationaltheater München mit Warlikowski einen goldrichtigen Griff getan. Was der Pole an hoch- und weniger hochkulturellen Verweisen in einem Opernabend unterbringt, ist schon beeindruckend. Ich fand auch nicht, dass sich das im Verlauf des Abends leerlief. Schrekers leicht verquastes Textbuch läuft bis zum Schluss auf Hochtouren, da bleibt der Regie nichts übrig ,als mitzuhalten.
Genau wie der Kritiker habe ich die Aufführung per Livestream verfolgt. Natürlich kann die Partie des Alviano mit einem kräftigeren Tenor besetzt werden, doch was der mit Musik des 20. Jahrhunderts bestens vertraute John Daszak an diesem Abend an Wortverständlichkeit leistet, ist bewundernswert. Für Catherine Naglestads inzwischen reife Stimme ist Schreker optimal. Stimmt es wirklich, dass die Gezeichneten Ingo Metzmachers Debüt an der Bayerischen Staatsoper waren? Das stimmt auch schon fast wieder bedenklich. Die letzten Vorstellungen übernimmt übrigens Markus Stenz. Glückwunsch an das Nationaltheater für eine zugleich ehrgeizige und gelungene Festspielpremiere!
Grüße aus Dresden
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Nein danke, das war viel zu viel Regie Firlefanz für drei Stunden Oper.
Es war geradezu rührend, wie das Social Media Team der Bayrischen Staatsoper auf Twitter tapfer versuchte, die vielen Verweise auf Film, Comic, Kunst etc. etc. zeitnah zu erläutern.
Was das Manko der Inszenierung aber umso klarer herausstellte!
Die Inszenierung von Warlikowski finde ich deshalb ärgerlich, weil alle Sängerinnen und Sänger absolut Vorbildliches bieten.
Besonders Frau Naglestad kann man nicht hoch genug loben. Auch die anderen überzeugen auf der ganzen Linie.
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Schöne Kritik, auch wenn ich sie inhaltlich nicht teile. Vielleicht, weil ich nur ein „halbwegs Informierter“ bin … (;-) Als solcher aber fand ich die gestern Abend in der Staatsoper gesehene Inszenierung albern platt („Beauty and the Beast“ für ein saturiertes Opernpublikum?) und die Musik während der ersten beiden Akte durchaus verführerisch. Im dritten Akt aber stellte sich auf der Bühne wie im Orchestergraben gähnende Langeweile ein. Vordringliche Fragen: Warum muss das so lang sein? Muss ich die Sänger wirklich, festgemauert in dem Bühnenboden, Zeile um Zeile deklamieren lassen? Und warum stellt sich so gar kein Mitgefühl, auch nur Interesse für eine der handelnden Personen ein? Wie gesagt: Ich bin halbinformiert. Aber als solcher begeistert mich Straußens Elektra ungleich mehr, von Alban Bergs Opern ganz zu schweigen: Die sind nämlich schon musikalisch so umwerfend, mitreißend, dass auch kaum eine Inszenierung ihre Faszination völlig überdecken kann.
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Besten Dank für Ihren Kommentar.
In der Tat, der dritte Akt zog sich deutlich, und da war bei Warlikowski dann auch die Luft raus. Dennoch sollte man Schreker eine Chance geben, weshalb ich es ehrenwert fand, dass die Münchner Oper ihm die Festspielpremiere gegönnt hat. Dass Strauss oder Berg kompositorisch immer noch eine Schippe drauf legen können, stimmt vermutlich.
Obwohl, ich habe im Rosenkavalier durchaus schon die eine oder andere Viertelstunde erlebt, in der ich mich gelangweilt habe.
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In meinen Augen handelt es sich hierbei um eine katastrophal überambitionierte Inszenierung, die letztendlich auch von guten Sängern nicht wettgemacht wird. Ja mei, weniger wäre mehr gewesen kein Mensch kann das Wirrwarr der Bedeutungen entwirren. So laufen viele Anspielungen ins Leere. Kann der Regisseur wirklich davon ausgehen, dass das Publikum erst mühevoll im Programmheft nachliest, welcher Einfall was bedeutet? Wenigstens waren die Sänger optimal. Insoweit lohnte sich das Kommen doch. Die Leistung des Staatsopernorchesters war ebenfalls über alle Maßen erfreulich.
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