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Andrea Chénier, das ist die klassische Dreiecksgeschichte in der Variante Revolutionsdrama. Die Moral von der Geschichte? Im Schatten der Guillotine ist schlecht lieben. Und der Brite John Dew inszenierte Umberto Giordanis Verismo-Meisterwerk an der Deutschen Oper Berlin grell und unmissverständlich. Der erste Akt ist eine fulminante Leistungsschau der Kostümbildnerei.
HIER BESPRECHUNG DES CHÉNIER VOM 28. NOVEMBER 2018 LESEN!
Für den standhaften und hitzigen Dichter Chénier bringt Tenor Marcelo Álvarez viel virilen Verve und Leidenschaft mit: Der Argentinier strahlt hinreichend revolutionäre Persönlichkeit aus und singt sich mit Caramba und Karacho durch seine zahlreichen Arien. Gut, der Mann lässt sich von seinem Temperament bisweilen zu äußerlichen Effekten (man höre die Partitur-fremden Noten am Schluss von „Un dì all’azzuro spazio“) hinreißen, womit er sich die zwei heftigen Buhs beim Schlussapplaus einhandelt. Doch Schwamm drüber, Álvarez‚ Singen klingt frei, spontan, das Timbre ist angenehm, und dass Álvarez als lyrischer Tenor begann, hört man im ersten Teil des betörenden „Come un bel dì di maggio“, wo er bisweilen klingt wie ein Nemorino, der nur aus Versehen ins Spinto-Fach gewechselt ist.
Ja, man hört es, die Arien in Andrea Chénier sind von auffälligem rhetorischem Reichtum und hymnischem Elan. Dagegen muten die Arien Cavaradossis aus Puccinis Tosca aphoristisch kurz an.
Madeleine, die vom Backfisch zur Donna resoluta gereifte französische Jungadelige, singt María José Siri mit robuster Stimme und unruhigem Breitband-Vibrato, so als befinde sich die Dame im emotionalen Dauer-Ausnahmezustand. Das Timbre erinnert von Ferne an Mirella Freni. Siris Sopran transportiert Gefühl, hat über den gesamten Stimmbereich Farbe und füllt problemlos die Deutsche Oper. Dazu kommen schöne strömende Piani. Was will man mehr? Indes, Verfechter einer reinen vokalen Linie werden (zum Beispiel Harteros-Fans) mit María José Siri wohl nicht glücklich werden.
Der dritte im revolutionären Liebes-Dreieck ist Gérard, ein revolutionärer Rhetoriker von Lenin’schen Gnaden – und ein reicher Charakter, der hasst und liebt und meist beides zugleich tut. George Gagnidze nimmt sich dieses wuchtigen Typs mit der knorrigen Kraft seines Baritons an. Dieser Bariton kann gefährlich vibrieren und blitzt von intensivem, eher monochromem Klang, ganz gleich ob Gérard gerade Machtmensch oder Gefühlsmensch ist.
Auch die Nebenrollen sind adäquat besetzt.
Judit Kutasi schenkt der treuen Bersi das intensive Orange ihres leuchtenden Soprans (allerdings leidet die Verständlichkeit, zumindest in „Temer, perchè?“), die Gräfin, Mutter Madeleines, wird rollenfüllend von Annika Schlicht gesungen, Madelon von der mit eindrucksvoller Stimm- und Leibesgröße aufwartenden Ronnita Miller („Son la vecchia“ mit etwas mühevoll gesetzten Spitzen-G’s). Den launig-zynischen Chénier-Freund Roucher präsentiert mit kräftigem Bass-Organ Ievgen Orlov, der aalglatte Fléville ist Dong-Hwan Lee, der Abbé des ersten Akts der Tenor Attilio Glaser.
Im Graben lässt Paolo Carignani den Verismo-Funken überspringen und erweist sich als zügiger, mit Überblick disponierender Opern-Erzähler. Das Orchester der Deutschen Oper gefällt mit gut aufgelegten Streichern und frischem Bläserklang.
Fazit: Dieser Andrea Chénier ist großes Sängerkino. Er bündelt in zwei kurz gerafften Stunden vier Akte voller Leidenschaft, Gewalt und Tod zusammen.
Großartige Sänger, mittelmäßige und durchschnittliche Inszenierung, so könnte man die Wiederaufnahme des Andrea Chenier zusammenfassen. Aber die Sänger sind doch das Wichtigste in der Oper, und hier konnte man am Samstag doch sehr zufrieden sein und das bis in die Nebenrollen hinein. Marcelo Álvarez hat mir zum wiederholten Male ausnehmend gut gefallen trotz der offensichtlichen technischen Mängel (man müsste doch wohl von sängerischen Unarten sprechen). George Gagnidze war schlicht großartig!
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Ich schließe mich dem Vorkommentator an.
Grässlich waren allerdings die Halleffekte im ersten Akt, jedenfalls wenn man wie ich im ersten Rang saß
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Der Hall muss an der angehobenen Bodenplatte und dem kastenartigen Bühnendesign gelegen haben. Der erste Akt ist sowieso recht sängerunfreundlich, weil die Sänger weit hinten singen müssen.
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Trotzdem Panne
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War heute drin.
Dirigent war nicht Carignani, sondern Ivan Repusic.
Der war mir etwas zu laut aber sehr effektvoll.
Alvarez sehr beeindruckend heute gab es weder Buhs noch falsche Töne. Allerdings hatte Alvarez in seiner letzten Arie am Ende mit der Höhe zu kämpfen.
Gagnidze war bei seiner Auftrittsarie sehr leise, oder eben Repusic viel zu laut.
Ach ja, Ronnita Miller hat ihre Arie auch sehr gut hinbekommen.
Komisch ich finde die Oper immer dermaßen konzentriert als hätte der Komponist nachträglich gekürzt. Dafür sind die Arien besonders lang.
Die Inszenierung ist ganz OK.
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Und der Chor war wieder einmal großartig!
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Oh nein, am Donnerstag singt ein Martin Mühle. Ich dachte, Alvarez würde die ganze Serie singen.
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Wenn man sich nicht auskennt, Claudio, sollte man sich nicht abfällig äußern: Ich sehe den Kommentar erst jetzt durch Zufall. Martin Muehle, brailianisch-deutscher Tenor, gehört inzwischen zur Weltspitze der lyrischen bis lyrisch-dramatischen bis zu den Spinto-Tenören. Sein Cavaradossi, sein Chénier, sein Kalaf und viele andere Rollen des Italienischen Fachs sind beispielhaft. Wunderbare goldene Tiefe, große, sichere Höhe, der braucht kein Falsett oder ein Transponieren der Rolle nach unten. Leute wie Kaufmann und Alvarez singt er leicht an die Wand…. Kritiken lesen oder mal auf youtube hören wie er Cielo e mar… singt . Und sogar Wagner singt er beispielhaft und akzentfrei. Sein Siegmund und sein Lohengrin setzen Maßstäbe.
Cordialmente
Franco Bastiano
Voice agent
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