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Da ist er. Kirill Petrenko.
Knapp-kompakt das Kraushaar, darunter die fliehende Stirn, dazu die irgendwie ausgemergelte Gestalt. Dirigiert er, beherrscht ein komplizierter Teppich aus Falten die Stirn.
Die Philharmoniker spielen Tschaikowskys Sechste, erster Satz.
Es klingt so locker gefügt und verblüffend genau ausgehört. Selten wurde in der Philharmonie in den letzten Jahren Spätromantik so besessen diszipliniert gespielt. Selten hört man die weiträumigen Spannungs- und Entspannungsfelder so hochbewusst ausgefeilt. Ist das nicht die Strategie Karajans: Überwältigen durch Schönspielen und Formbewusstsein? Den elegischen Kulminationspunkt der Coda spielen die Musiker jedenfalls mit karajanesk schöner Entfaltung der Linien. Erstaunlich andererseits, wie frei virtuos die Holzbläser (Moderato mosso) spielen dürfen.
Nach diesem ersten Satz kann ich verstehen, warum die 128 Petrenko wählten.
Wäre der zweite Satz – Allegro con grazia – nicht entwickelt aus einer Vielfalt dynamischer Abstufungen, besonders in den Bewegungen der Streicher, er klänge auf eine geheimnislose Art lediglichschön. Und gelänge der dritte Satz – Allegro molto vivace – nicht in großer Klarheit, er klänge nach einer öden Mischung aus Beethoven, Mendelssohn und Mjaskowski (er tut’s fast).
Petrenko hält das Tempo – fast bin ich geneigt zu sagen: wunderbar – flüssig (Seitenthema erster Satz, auch beim Einsatz der Reprise). Exemplarisch konnte man das immer wieder in Satz Nr. 2 hören. Freilich kann man Kritik äußern. Der Durchführung (Satz 1) gebricht es an der Kraft letzter dramatischer Zusammenballung (anders bei Barenboim). Höhepunkte geraten nicht zu jenen Schmelzpunkten, an denen der Verstand für Sekunden aussetzt (Rattle kann das).
Petrenko ist weitgehend ein Parallele-Hände-Dirigent. Dazu kommen abgehackte Bewegungen der Hände bei anziehendem Tempo. Interessant ist der himmelnde Blick, gerade als würde Petrenko vor emotional fordernden Stellen Beistand von oben anrufen. Die Schmerzverknotungen der Streicher des Finales sucht Petrenko in der zitternden Faust des leicht angewinkelten Arms zu konzentrieren. Wird es richtig schmalzig, stellen sich die Augenbrauen schräg wie bei bayerisch-österreichischen Heiligenfiguren um 1700.
Ich könnte noch viele bemerkenswerte Stellen aufzählen. Nur noch diese aus dem Finale. Denn bemerkenswert ist das vielstimmig fließende Geschiebe der Streicherstimmen über Bläsertriolen im Andante-Thema, das in der herben Coda in den Bratschen und Celli wiederkehrt, diesmal über den Triolen der Bässe.
Es ist typisch, dass die Tschaikowsky-Partitur auf dem Pult liegt und der Russe Petrenko sogar hineinschaut.
Es ist die beste Tschaikowsky-Sechste seit der von Barenboim (seien wir ehrlich, Честно говоря, die Interpretationen von Tschaikowsky-Sinfonien durch die Philharmoniker in den letzten Jahren waren dürftig).
Vor der Pause erklingt eine klare Haffnersinfonie mit einem außerordentlich gelungenen Finale und John Adams‘ The Wound-Dresser, das mir das bislang überzeugendste Werk im Rahmen des Adams-Zyklus der Saison 16/17 zu sein scheint. Es singt der Österreicher Georg Nigl mit präzisem Timbre und stählernem Vibrato.
Der Applaus ist äußerst warm und andauernd. Die meisten Zuhörer erheben sich. Petrenko reicht Madeleine Carruzzo den Strauß.
Gehört über die Digital Concert Hall.
Weitere Kritiken des Mozart- und Tschaikowsky-Konzertes mit Kirill Petrenko: folgen
War auch begeistert, habe mir das Konzert schon vorgestern angetan, Stehplätze K rechts.
Der Tschaikowski war auch sehr kurz, kommt mir sonst immer zäh vor, bei Petrenko alles licht.
Mozart frisch und knackig, ohne die historisch informierte Brechstange.
Bin überzeugt, dass von den 128 Musikern zumindest alle Streicher für Petrenko gestimmt haben so wie die gespielt haben.
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Endlich war Kirill Petrenko mit seinem zukünftigen Orchester in seinem zukünftigen Haus zu hören! Es war ein eindrucksvolles Konzert, dazu mit einem ausgewogenen klassisch-romantischen Programm. Tschaikowsky war Petrenko sichtlich eine Herzensangelegenheit. Das Publikum zeigte sich begeistert, der Applaus länger als üblich, zuletzt stand der gesamte Saal. Dies war der Beginn einer besonderen Geschichte.
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Petrenko kann das Handwerk UND hat Sinn für den Überbau.
Ein Hör-Fest war die Pathétique. Den Musikern merkte man die Aufregung an, es war auch für sie ein besonderes Konzert. Ein Hauch von Antrittskonzert lag in der Luft. Petrenko arbeitet aus der Sinfonie Nr. 6 sowohl das spätromantisch Extravagante und die klassische Klarheit mustergültig heraus. Die meisten Dirigenten scheitern daran, auch der von ihnen favorisierte Barenboim. Ihre Kritik insbesondere an den Binnensätzen kann ich nicht nachvollziehen. Schöner kann man das kaum spielen. Petrenko wird ein würdiger Nachfolger von Sir Simon Rattle sein.
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Ich war beim zweiten Abend da. Respekt für Ihre Detailkritik zu Tschaikowsky. Ich fand diese Pathétique ganz großartig, auch wenn ich an Karajan weniger denken musste.
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Vom Programm her leider die alte Mär‘: zuerst Klassik, dann Zeitgenössisches als Alibi, und dann spätromantische Symphonik. Da wollte Petrenko wohl lieber nichts riskieren, es sich bloß nicht mit den Abonnenten verscherzen. Die dankten es mit donnerndem Applaus.
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Mozart ist doch nie schlecht. Und die Pathétique ist ja auch formal sehr interessant.
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Nach den Pauken und Trompeten ad majorem gloriam Petrenko muss ich einige kritische Anmerkungen anfüggen.
Die ganz große Offenbarung war das Konzert nun auch nicht. Ich hörte das erste am Mittwoch. Die Haffner-Sinfonie war über weite Strecken nicht der ganz große Wurf, zu Anfang ziemlich brav, dann etwas uninteressant, und das Finale ist ein Selbstläufer: spiel’s schnell, fordere deine Musiker etwas, aber nicht zu sehr, und schon klatscht das Publikum um die Wette.
Der Hinweis auf Karajan war gar nicht schlecht, obwohl vom Rezensenten natürlcih in leicht polemischer Absicht hinzugefügt sein dürfte. Karajan ist für die meisten inzwischen ja eher ein Schimpfwort denn ein Synonym für meisterhafte Klangkontrolle und dramaturgisches Genie. Aber das Auskosten von Phrasierungsdetails, das Petrenko über weite Strecken zeigte, ließ mich auch an den großen Herbert denken. Gerade was einige Rezensenten beschrieben haben, die vulkanische Energie etc. etc., habe ich nur in Ansätzen gehört. Haben sich hier einige Hörer von den ekstatischen Grimassen Petrenkos verleiten lassen?
Und ja, einige Bläsersoli fand ich richtiggehend albern.
Allerdings, es hätte auch schlechter kommen können.
Also, bei Petrenko gibt es noch Luft nach oben.
VG Linus
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Moment, Moment, ich zähle zu den Karajan-Befürwortern. Sogar bei Bruckner greife ich desöfteren zu HvK-Aufnahmen, und das will doch was heißen. Nicht zu vergessen die herb gescholtenen 70er- und 80er-Einspielungen.
Was Petrenko angeht, so hat sich meine Reserviertheit ihm gegenüber etwas gelockert. Ich habe Petrenko in den letzten Jahren öfters in München gehört. Seinem Wagner fehlte mir stets das Drängen und Wühlen. Bei Petrenko kommt wenig aus dem Bauch und viel aus dem Kopf.
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Kirill Petrenko habe ich im Dezember 2012 mit Skrijabin und der Psalmensymphonie in der Philharmonie gehört. Beides passt sehr gut zu seinem Stil. Der Eindruck war indes nicht gerade überwältigend. Gelegentlich habe ich mir auch eine Bayreuth-Übertragung unter seiner Stabführung angetan. In München habe ich nur die Soldaten unter seiner Leitung gesehen und drei Akademiekonzerte gehört, wobei Die Soldaten nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. Die Stärken Petrenkos liegen allerdings eher im 20. Jahrhundert. Brahms liegt ihm gar nicht, Bruckner ebenso. Auch zu Beethoven bleibt ihm die Tür vorerst verschlossen.
Nein, Sie sind Karajanist? Wenn Sie jetzt noch sagen, dass Sie Karajans Haydn-Aufnahmen aus den Achtzigern goutieren, dann bin ich vollends überrascht.
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Ziemlich respektlos, wie hier über Petrenko geschrieben wird.
„Knapp-kompakt das Kraushaar, darunter die fliehende Stirn, dazu die irgendwie ausgemergelte Gestalt.“
Was soll das?
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Es steht Ihnen ja frei, den Einheitsbrei der Presse zu lesen. Immer gleicher Stil, gääääääähnn
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