Die Herren heute mit Fliege.

Wir lieben Christian Thielemann wegen seiner Programme. Orpheus und Henze. Kann ich mehr verlangen?

Liszts Orpheus stammt aus jenen paar Jahren, als die musikalische Romantik die unangefochtene Herrschaft über Europa ausübte. Das war kurz bevor Antikapitalismus (Wagner), Realismus (Verdi) und Klassizismus (Brahms) ihr diskret zuerst zwar, aber doch immer vernehmlicher ans Bein zu pinkeln begannen.

Orpheus also. Der erste Teil besteht aus Solistenkantilenen (Oboe, Klarinette, erste Geige). Der zweite Teil wird von einer faszinierenden Eskalierungs- und Deeskalierungsstrategie beherrscht.

Es herrscht das sanfte Hochgefühl, das dem Weimarer Hof nach der 1848er Revolution gut angestanden haben mag. Das gut geschnittene Thema besitzt bei allem treuherzigen Mitteilungsbedürfnis einen transzendentalen Bereich und höchsten Reiz. Diese eigentümliche Verbindung von Sanftheit und Leidenschaft konnte nur Liszt. Konzertmeister Stabrawa spielt seinen Solopart feinsinnig. Der Orpheus dürfte eines jener Stücke sein, das ich live fünf Mahl hintereinander mit der selben Aufmerksamkeit hören könnte. Ich schwöre.

Hans Werner Henzes Sebastian im Traum macht mehr Spaß als der sperrige Trakltitel vermuten lässt. Henze wandelt auf Schönbergschen Pfaden, dennoch ist der Ton spezifisch. Es gibt die leidenschaftlichen Streicher und diskrete Details (Flattern der beiden Flöten, Triller, Duettchen der Trompeten). Gedämpfte Aura, traumhaft instrumentiert. Die Partitur ist aber auch großer Erregung fähig. Ein Stück ersten Ranges. Gerne bald wieder.

Orchesteraufstellung der Berliner Philharmoniker: Kontrabässe links, davor erste Geigen, Mitte zuerst Celli, dann Bratschen, rechts zweite Geigen. Solène Kerrmarec in der ersten Reihe. Stabrawa und Buschatz an den ersten Pulten der ersten Geigen.

Thielemann biegt sich rückwärts. Der Bauch hat gewonnen. Der Pony hat den Charakter einer ausgefahrenen Markise.

Bläsersolisten: Pahud, Fuchs, Concertgebouworkest-Oboist Lucas Macias Navarro, der Hornist ist blond und neu. Schweigert.

Es war klar. Nach so angenehmem Zeitvertreib konnte die Eroica höchstens halb geraten. Sie geriet immerhin halb. Und die raschen Sätze wirklich am unteren Limit von halb. Das ist kein Blut-Schweiß-Tränen-Beethoven. Thielemanns Dritte kennt Napoleon nicht mal vom Hörensagen. Wenige wirkliche Spannungsfelder. Gefährlich lässig gesetzte Akzente. Locker fügen sich die Abschnitte. Ich bemerke eine Tendenz zum snobistischen ‚Anreißen‘ von Einsätzen.

Zufriedenheit beobachte ich an mir während des zweiten Satzes, den ich in seiner spezifischen Thielemann-Ausprägung drei Jahre zuvor noch langweilig gefunden hätte. Für diese spezifische Thielemann-Ausprägung habe ich heute ein Ohr. Für die Art, wie Thielemann den Satz wuppt. Der Satz entwickelt sich zu einer Odyssee seltsamer Schönheiten. Die Streicher verdienen vollstes Lob. Dient nicht alles, was im Trauermarsch passiert, der Verklärung der Orchesters? Auch wenn man kann jede Menge seifige Akzente finden kann. Ja. Aber.

Vor dem Scherzo zieht Thielemann eine Grimasse wie ein Boxerhund (grimmige Entschlossenheit). Bei Thielemann wird das Angehen eines Themas von einer gewissen Gemütlichkeit begleitet. Er schleift sich immer so rein. Das Zelebrieren von Sekundärbereichen. Die Bläsersolisten klingen weniger lustvoll als bei Rattle. Lucas Macias Navarro bläst dennoch eine empfindsame, rubatogeschwängerte Aufwärtslinie vor der Coda des 3. Satzes.

19 Uhr ist mir einfach zu früh. Aber sei’s drum.

Wär doch mal was, wenn Thielemann was zugeben würde. Vorspiel 3. Akt Meistersinger oder Ähnliches.