Anne-Sophie Mutters jährliche Auftritte in der Philharmonie sind so sicher wie die Tatsache, dass Thielemann mit den Philharmonikern entweder Strauss oder Bruckner oder beides dirigiert.

Der erste Teil des Programmes war unauffällig mit relativ Unbekanntem von Mozart und Schubert – von euch Experten, die das Köchelverzeichnis nach fünf Pils noch rückwärts aufsagen können, bitte keine entrüsteten Kommentare. Der zweite Teil beinahe ebenso unauffällig mit kaum Bekannterem von Lutoslawski und Saint-Saens. Im ersten Teil war Frau Mutter offensichtlich der Meinung, dass Variieren und Pizzikieren eine schöne Sache ist. Sie variierte und pizzikierte ausführlich. Der Schubert war länger, als man dachte. Das Publikum war hörbar reserviert nach Mozart und noch nicht aufgetaut nach Schubert.

Es ist nicht leicht, sich eine Meinung zu Mutters Geigenspiel zu bilden. Man hört, Konzerte von Anne-Sophie Mutter wären geradezu eine Orgie von Manierismen. Da mag was dran sein, aber warum sollte sich eine Musikerin vom Rang, vom Alter – ähem, von der Erfahrung – Anne-Sophie Mutters nicht eine eigene Sicht auf die Dinge, die sie womöglich sogar besser kennt als die Mehrheit ihrer Zuhörer, erlauben? Kurz gesagt, Mutter spielte heute nicht manierierter als sonst auch.

Doch der Reihe nach. Mozart (Sonate KV 379) klang wie eine Fingerübung – von der Art und Weise, wie diese absolviert wurde, schien Anne-Sophie Mutter sogar selbst beeindruckt, ein bisschen jedenfalls. Das galt auch noch teilweise für Schubert. Der Ton bei Mozart ist gelegentlich deutlich vibratolos, gewollt trocken gewählt, sogar ausgesprochen nackt, aber intensiv nackt, nur an wenigen Stellen meinem Gehör nach ermüdend nackt. Den konzentrierten, nicht expansiven Ton hört man auch noch bei Schubert (Fantasie C-Dur). Mutter scheint eine Ballung ihres Tons auf Stecknadelkopfgröße als das ästhetische Mittel ihrer Wahl zu betrachten. Die erstaunliche Disziplin, mit der sie Schuberts nicht immer spannende Figurationen streng ausspielt, lässt die Vermutung zu, dass Frau Mutter gerade das Einfache, Naheliegende als unergründliches Rätsel betrachtet. Kein überschwänglicher Applaus zur Pause.

Bei Lutoslawski (Partita) taute der Saal (und Frau Mutter) dann auf, und bei Saint-Saens (Sonate Nr. 1 d-Moll) waren dann wohl alle zufrieden. Am bemerkenswertesten war das, was nur für wenige Sekunden aufschien: das mit sicherstem Gefühl für die Linie bewegte, umwerfend leichte Piano in der mittleren Höhe, ein kurzes, aber desto reicheres Aufblühen des Tons innerhalb ausgesuchter Phrasen, ein meisterhaftes, federndes Legato bei Saint-Saens. Die Klangalchimie, deren Mutter bei Piano-Werten fähig ist, gehört zum Besten und Unerreichtesten, was zur Zeit im Violinspiel möglich ist. Die schlanke Höhe erreicht bei Lutoslawski gleißende Kraft. Sie spielt mit einer Effektivität, die das Blut gefrieren lässt.

Und es ist immer wieder faszinierend zu erleben, mit welch unerbitterlicher Meisterschaft, aber auch mit welcher Sensibilität für die Tonemission Anne-Sophie Mutter einen Halteton mit einem einzigen, endlos scheinenden Strich spielt.

Ihren extra-großen Ton hört man in der Philharmonie, abgesehen von Lutoslawski, nur kurz, aber dann durchaus mit Willen zum Forcieren. Bei Saint-Saens hört man nur wenige vibratolose Töne: nämlich einige sehr hohe Liegetöne.

Lambert Orkis ist kein Pianist allerersten Rangs, aber ein guter Pianist (ich muss heute großzügig sein).

Zweifelt jemand daran, dass ich enttäuscht über ihr Kleid war? Keine Knieschleife, ein glanzloses Rot, wenig Glamour. Wo soll das hinführen? Gott sei Dank sitzen Mutters Haare fest wie eh und je, keine noch so tiefe Verbeugung kann dessen Sitz etwas anhaben. Auffällig: das Sehnen- und Muskelspiel der unbekleideten, gut durchtrainierten rechten oberen Schulterpartie.

Unter den Zugaben war heuer weder eine von André Previn noch von Bach. Ravel Habanera, Brahms Ungarischer Tanz (2), Massenet Thais-Meditation. Brahms spielte Mutter mit großen Unterschieden in Lautstärke und Tonvolumen. Bei Massenet konnte man hören, mit welch zwangloser Gewalt Mutter eine Linie aufbaut.

Die Philharmonie nicht ausverkauft.

Review/Kritik Anne-Sophie Mutter: immer noch die größte

Mozart Sonate für Violine und Klavier G-Dur KV 379 / Schubert Fantasie für Violine und Klavier C-Dur D 934 / Lutosławski Partita / Saint-Saens Sonate für Violine und Klavier Nr. 1 d-Moll op. 75