Maurzio Pollini Chopin Fantasie  f-Moll op. 49, Nocturnes op. 62, Polonaise-Fantasie As-Dur op. 61 Liszt Nuages gris, Unstern! Sinistre, disastro, La lugubre gondola, R.W. – Venezia, h-Moll-Sonate

Die Philharmoniker sind in Asien. Pollinis Klaviertransporter stand schon Sonntag vor der Philharmonie. Seit Wochen scheint die Sonne. Seit heute ist es in der Leipziger Straße und auch anderswo affenkalt. Es gibt Déjà-vus. Maurizio Pollini, den man zur Zeit fast alle paar in Berlin Wochen hört, schüttelt dem Blumenmädchen wie immer mit italienischer Herzlichkeit und Höflichkeit die Hand. Er geht wie immer gebeugt, eilt wie immer etwas schüchtern zum Schemel. Er gibt zwei Zugaben. War das diesen Mai, als er fünf gegeben hat?

Die kurzen Liszt-Stücke scheinen an diesem Konzertabend Gedankenexperimente, an Kargheit, aber auch an eigentümlicher Geheimnisferne kaum zu übertreffen. Aimard hatte ein ganz ähnliches Liszt-Programm beim Musikfest im September. Aimard buchstabierte, suchte nach dem Notentext, beleuchtete. Pollini heute Abend spielte Liszt in einer Mischung aus kühner Improvisation und millimetergenauer Vermessung. Pollinis Rubati klingen so, als stünden sie exakt so in der Partitur. Es kommt beim Hörer überhaupt kein Gedanke auf, dass sie einer künstlerischen Freiheit entspringen könnten. Und doch ist eine seltsame Freiheit in Pollinis Liszt, auch in Pollinis Chopin. Einiges ist huschend beiläufig genommen, wie beiseite gesprochen. Einiges ist auf eine unbeschreibliche, von unnachahmlicher Distinktion erfüllter Weise „heruntergespielt“, so als sollte ich das gar nicht so ganz genau hören, Hauptsache Pollini hört alles.

Pollinis zurückhaltende, leidenschaftliche, unprätentiöse Präzision berührt erst, nachdem man gemerkt hat, dass sie irgendwie unberührt lässt. Die h-Moll-Sonate hat eine vertrackte Dezenz, eine in sich versponnene Genügsamkeit, die an die schwierige Einfachheit des Parsifal denken lässt. Wie oft bei Maurizio Pollini ist der ästhetische Ertrag dieses Klavierabends vollkommen unklar. Einiges aus der Sonate, aus dem Scherzo, aus der Fantasie-Polonaise war Klavierspiel höchster Herkunft. Anderes wieder war anscheinend nur fürs Hören gedacht, nicht fürs Eindruckmachen. Keine Note lastet, keine Note seufzt. Pollinis Spitzentöne glänzen nicht, haben eher was Klirrendes. Jede störende Übersichtlichkeit fehlt, das wäre vereinfachend, denkt Pollini. Pollini will es nicht einfach, sondern richtig, und das bei jeder Note.

Dann ist da noch eine elegische Reinheit, eine vor allem provozierende Natürlichkeit der Abläufe, etwa in der Polonaise-Fantasie und der Liszt-Sonate. Dabei weigert sich Liszt, „gekonnt“ zu phrasieren. Eigentlich phrasiert er gar nicht, wie er eigentlich keine Rubati spielt, weil er sie spielt, als wären sie notiert. Das wurde in der Sonate klar. Pollini denkt die Abläufe von Takt zu Takt, oder eher noch von Note zu Note, nicht von großen Bögen her. Sind die „großen Bögen“ altmodisch? Rattle macht auch keine „großen Bögen“, und es klingt richtiger als bei einem Dirigenten, der Bögen macht. Gerade die Unbestimmtheit des Ausdrucks bei hoher Genauigkeit der Ausführung ist typisch, wenn Pollini im abgedunkelten Licht der Philharmonie dasitzt und Chopin und Liszt spielt. Also wieder mal ein sehr, sehr typisches Pollinikonzert.

Das zweite der Nocturnes nahm ein Zuhörer zum Anlass, einzuschlafen und zu schnarchen, was eine sachgemäße Interpretation dieses Stückes war. Zuerst dachte ich, Pogorelich säße in der ersten Reihe, aber der ist ja erst in einer Woche in Berlin.

Kritik Pollini: abgeklärt großartig